Rütgerswerke AG, Erkner
Friederike Zimmermann
Im 19. Jahrhundert begann mit dem Zeitalter der Industrialisierung auch der Ausbau der Eisenbahn. Mit dem rasanten europaweiten Netzausbau und den fortlaufenden Instandhaltungsarbeiten begann der Aufstieg der Familie Rütgers. Da die Eisenbahnschwellen zunächst aus unbehandeltem Holz bestanden, waren sie durch äußere Einflüsse wie der Witterung bereits nach wenigen Jahren in einem schlechtem Zustand. Ein Austausch der Schwellen war kostspielig und so wurden, zunächst in Frankreich und England, Verfahren entwickelt, um diese zu imprägnieren und um ein Vielfaches länger haltbar zu machen. Im deutschsprachigen Raum widmete sich ab 1847 Julius Rütgers der Schwellenimprägnierung und später der Teerdestillation für die Herstellung von Imprägnieröl.
Julius Rütgers – Entstehung des Unternehmens
Im Jahre 1830 wurde Lambertus Hermann Julius Rütgers als erstes von sechs Kindern in Bensburg bei Köln geboren und besuchte dort die Schule. Mit 16 Jahren begann Rütgers ein landwirtschaftliches Volontariat bei Bekannten der Familie auf dem schlesischen Gut Wilkau, nahe Breslau. Aufgrund der schwierigen politischen Lage während der Revolutionsjahre 1848/1849 geriet das Gewerbe des Vaters in der rheinländischen Heimat in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Dies mag Julius Rütgers zur Rückkehr veranlasst haben, denn 1849 stieg er in das Geschäft ein und nahm das vom Vater 1847 gegründete erste deutsche Imprägnierwerk in Neuss wieder in Betrieb. Damit konnte er die Verträge des Vaters mit der Aachen-Düsseldorfer-Eisenbahngesellschaft über die Lieferung der, nach französischen Verfahren imprägnierten, Eisenbahnschwellen erfüllen. Noch im selben Jahr begann er mit dem Bau einer zweiten Imprägnieranstalt in Essen, in welcher nach britischen Bethell-Verfahren Holzschwellen im Auftrag der Cöln-Mindener-Eisenbahn gefertigt wurden. Später konnte das genaue Datum der Gründung des Unternehmens nicht mehr ermittelt werden, aber es ist wahrscheinlich im Frühjahr 1849 zu verorten. Es wurde im Nachhinein auf den 9. April 1849 festgelegt.
Nach Abschluss des Auftrages für die Cöln-Mindener-Eisenbahn im Jahre 1854 verlagerte Rütgers seinen Geschäftssitz ostwärts nach Schlesien nahe Breslau, um dort am beginnenden Eisenbahnausbau zu partizipieren. Bereits ein Jahr später schloss er mit der Oberschlesischen-Eisenbahngesellschaft einen Vertrag, wonach zwei Drittel aller zu verbauenden Eisenbahnschwellen und Weichenteile in den nächsten zehn Jahren von Rütgers produziert werden sollten. Dafür ließ er zunächst zwei Imprägnierwerke in Kattowitz (1855) und Breslau (1857) bauen.
Mit der rasant steigenden Nachfrage nach Eisenbahnschwellen für den europäischen Streckennetzausbau schnellte der Preis für Rohstoffe und insbesondere für die verwendeten Imprägnieröle in die Höhe. Um dem Abhilfe zu schaffen, erbaute Julius Rütgers 1859 eine erste eigene Teeröldestillationsfabrik in Erkner. Zuvor hatte er die Imprägnieröle zu immer höheren Preisen aus England importieren lassen.
Ab 1860 wurden, verteilt über die deutschen Länder, weitere Teerraffinerien errichtet. Diese erhielten aus den Leuchtgasanstalten der Städte das dort anfallende Abfallprodukt Steinkohlenteer, welches in den Teerölraffinerien günstig zu Imprägnieröl weiterverarbeitet wurde. So wurde Rütgers Produktion von Eisenbahnschwellen unabhängig von Importen aus dem Ausland und damit verbundenen Preisschwankungen.
Bis zur Jahrhundertwende entstanden innerhalb von nur 50 Jahren, verteilt über ganz Europa, neben 77 Imprägnierwerken auch insgesamt neun Teerraffinerien der Brüder Guido und Julius Rüttgers. In diesen Werken wurden bis zum Jahr 1900 insgesamt Schwellen für 60.000 km Eisenbahnstrecken imprägniert.
Erkner – Standort der ersten Rütgers-Teerraffinerie
Begonnen hatte Julius Rütgers mit der Forschung zur Herstellung und Technik rund um Steinkohlenteer bereits in Breslau. In seinem dortigen Imprägnierwerk begann er versuchsweise Steinkohlenteer zu destillieren, welches er aus umliegenden Gaswerken bezog. Wissenschaftlich wurde diese Anfangsphase von der Universität in Breslau begleitet. Aufgrund der positiven Ergebnisse suchte Rütgers nach einem geeigneten Standort für seine erste Teerraffinerie. Perfekte Rahmenbedingungen für dieses Projekt fand er im kleinen Erkner, nahe Berlin.
Zu dieser Zeit gab es Erkner als eigenständige Einheit nicht, es war bis 1889 ein „Wohnplatz“ des sogenannten I. Heidedistrikts im Amt Rüdersdorf. Insgesamt lebten 591 Personen um 1860 in diesem Distrikt, davon 293 auf dem größten „Wohnplatz Erkner“. Die dünne Besiedlung spiegelte sich auch im Straßenbild wieder. Die Wohnhäuser standen mit großen Abständen, es gab keine Kirche oder gar einen zentralen Platz, nur ein öffentliches Gebäude und einige Häuser zur wirtschaftlichen Nutzung. Eine Schule befand sich im benachbarten „Wohnplatz“ Neu-Buchhorst.
Die Standortvorteile Erkners ergaben sich aus der außergewöhnlich guten infrastrukturellen Anbindung der kleinen Siedlung. Neben einem eigenen nahen Bahnhof auf der Eisenbahnstrecke der Niederschlesisch-Märkischen-Eisenbahn kamen Wasserstraßenverbindungen nach Berlin und Rüdersdorf hinzu, sowie die Nähe zur Universität der preußischen Haupt- und Residenzstadt Berlin. Diese Nähe ermöglichte auf kurzem Wege die Beschaffung der Rohstoffe für die Teeröldestillationsanlage. Die zunächst mit Kalk beladenen Schiffe, die aus dem nahegelegenen Rüdersdorf in die Stadt fuhren, konnten nun den Rückweg beladen mit Steinkohlenteer aus den vier Leuchtgasanstalten Berlins antreten. Gleichzeitig ermöglichte die Nähe eine enge Verbindung zur renommierten Forschungsabteilung der Universität Berlin, zur Weiterentwicklung der Produkte und Forschung an Techniken und Herstellungsverfahren rund um den Rohstoff Steinkohlenteer. Zudem steigerte der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende rasante Ausbau des Streckennetzes den Bedarf an Imprägnierölen zur Herstellung langlebiger Eisenbahnschwellen. Im Jahre 1859 begann Rütgers zunächst mit dem Bau einer Imprägnieranstalt, währenddessen liefen die Genehmigungsverfahren für die erste eigene Teerdestillationsstätte, welche im folgenden Jahr bewilligt und schließlich 1861 fertiggestellt wurde.
1872 wurde die Firma schließlich in das Berliner Handelsregister eingetragen. Im Jahr 1881 gründete sich unter Rütgers' Beteiligung in Hamburg die „Chemische Fabrik Aktiengesellschaft Hamburg“, u.a. mit der „Theerproductionsfabrik Erkner“ und weiteren Teerfabriken in Niederau und Pasing sowie der Erdöldestillation Grabow. Die Generalvertretung des Unternehmens saß jedoch in Berlin. 1897 erfolgte eine Umbenennung der Firma in „Aktiengesellschaft für Theer- und Erdölindustrie“, die ihren Sitz schließlich von Hamburg nach Berlin verlegte. Das Aktienkapital der Firma wurde 1902 von 5 auf 9 Millionen RM erhöht. Gleichzeitig erfolgte eine Umbenennung in „Rütgerswerke Aktiengesellschaft“. Dieser Name blieb auch nach dem Tod des Firmengründers am 6. September 1903 bestehen.
Mit der stetigen Verfeinerung der Verwertung des Steinkohleteers, so z.B. durch die Nutzbarmachung des umfangreich anfallenden Rückstands Steinkohlenteerpech für die Gewinnung technisch reinen Industrie-Kohlenstoffs, eröffnete sich in den Jahren um 1900 ein weiterer Absatzmarkt für das Werk in Erkner. Abnehmer war die aufstrebende und stetig wachsende Elektroindustrie. Der Fokus der Firma lag fortan auf der Herstellung von Industrie-Kohlenstoff für diesen Wirtschaftszweig. Hauptabnehmer in der Region Berlin-Brandenburg waren die Berliner Großunternehmen AEG und Siemens. (Abb. 1, 2)
Forschungsabteilung Erkner
Ein Pluspunkt für Erkner als ersten Standort von Rütgers Teerdestillation war die Nähe zum renommierten chemischen Laboratorium an der Berliner Humboldt Universität. Die Idee einer eigenen Forschungsabteilung auf dem Firmengelände in Erkner sollte die stetige Verbesserung der Herstellungsverfahren von Imprägnierölen und Eisenbahnschwellen sicherstellen. Zwei Schüler des Chemikers August Wilhelm von Hoffman, dem Gründer der Deutschen Chemischen Gesellschaft, dessen Verdienst die bahnbrechende Forschung zu Teerfarben war, wurden wichtige Wegbereiter des Erfolges der Firma von Julius Rütgers. Gustav Kraemer (1842-1915) arbeitete nach seiner Apothekerlehre als Assistent Hoffmanns im Labor der Berliner Universität, bis er 1880 zu Forschungszwecken nach Erkner wechselte. Dort baute er das Forschungslabor aus und wurde mit der Aufspaltung des Unternehmens zum Direktor der „Chemische Fabrik Aktiengesellschaft“, während Julius Rütgers sich auf das Geschäft der Imprägnieranstalt konzentrierte. Im Jahre 1889 folgte ihm Adolf Spilker (1863-1954) nach Erkner, der nach seiner Apothekerausbildung an der Universität Berlin neben Physik, Botanik und Bakteriologie auch Chemie studiert und 1888 promoviert hatte. Gemeinsam entdeckten Kraemer und Spilker die ersten künstlichen Harze aus Inhaltsstoffen des Steinkohlenteers und meldeten die Patente an. Mit diesen zunächst thermoplastischen vollsynthetischen Kunstharzen ließen sich besonders widerstandsfähige Lacke für verschiedene Werkstoffe wie Holz und Metall produzieren, die nicht mehr natürlichen Ursprungs waren, wie der zuvor häufig verwendete Schellack. Auf diese bahnbrechende Entdeckung der sogenannten Iden-Cumaron-Harze folgten weitere Entwicklungen, vorrangig für die Lackindustrie.
Zukunft des Unternehmens nach Rütgers Tod
Kurz nach der Jahrhundertwende, im Herbst 1903, starb Julius Rütgers im Alter von 73 Jahren, sein Sohn und Nachfolger Rudolph verstarb im selben Jahr kurz nach seinem Vater. Es kam, mangels weiterer in Frage kommender Nachfolger in der Familie Rütgers, zu einer Neuordnung der Führungsetage. Zum Vorstandsvorsitzenden und gleichzeitig Generaldirektor wurde zu Beginn des Jahres 1904 Sali Segall (1866-1925) ernannt. Der neue Generaldirektor trieb die Umgestaltung der Rütgerswerke durch gezielte Zukäufe, Fusionen und Partnerschaften zu einem führenden deutschen Unternehmen der Steinkohlenteerchemie innerhalb Deutschlands entscheidend voran. Auch die Beschäftigungszahlen des Betriebes wuchsen von 135 im Jahr 1914 auf ca. 400 Beschäftigte im Jahr 1939. (Abb. 3)
Das Unternehmen hatte trotz einer völlig neuen Führungsetage nach dem Tod des Gründers auch am Produktionsstandort Erkner weiter Bestand und wurde nach dem Ersten Weltkrieg mit einer Weltneuheit berühmt – der Herstellung von Bakelit in großem Stil. Dies war gleichzeitig die Geburtsstunde für den heutigen alltäglichen Rohstoff Plastik.
Nach Kriegsende wurden wesentliche Teile der Industrie in Erkner durch die sowjetische Besatzungsmacht demontiert, zerstört oder enteignet. Nach der Enteignung der „Rütgerswerke“ wurden diese in „Volkseigentum“ überführt. In den Resten des Teerwerks musste vorerst nun vorrangig für die Sowjetunion produziert werden.
Quellen
Brandenburgisches Landeshauptarchiv Rep. 703 VEB Teerdestillation und Chemische Fabrik Erkner. [Siehe: Hier]
Literatur
Collin, Gerd: Julius Rütgers und Erkner (= Erkneraner Hefte. Bd. 6). Erkner 2004.
Collin, Gerd Geschichte der Steinkohlenteerchemie am Beispiel der Rütgerswerke. Hamburg 2009.
Collin, Gerd: Leo Hendrik Baekeland und das / (die) Bakelit(e) (= Erkneraner Hefte Nr. 9). Erkner 2007.
Kleinschmidt, Christian: „Rütgers, Julius“. In: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), S. 230 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd117598798.html#ndbcontent.
Retzlaff, Frank: Die Geschichte der Gemeinde Erkner zwischen 1860 und 1914. Berlin 1984 (Diplomarbeit an der Humboldt Universität zu Berlin).
Abbildungsnachweis
Abb. 1, 3 Erkneraner Hefte. Band 6.
Abb. 2 Berlin und seine Bauten. Zweite Reihe. Band 1: Einleitendes – Ingenieurwesen. Berlin 1896.
Empfohlene Zitierweise
Zimmermann, Friederike: Rütgerswerke AG, Erkner, publiziert am 03.08.2022; in: Industriegeschichte Brandenburgs, URL: http://www.brandenburgikon.de (TT.MM.JJJJ)