Sozialistische Industrialisierung
Die Entwicklung des verarbeitenden Gewerbes in Brandenburg vom Zweiten Weltkrieg bis zum Mauerfall (1945-1989)
Wolf-Rüdiger Knoll
Kriegsfolgen und Demontagen
Der Zweite Weltkrieg war für die Provinz Brandenburg verheerend. Die Angriffe auf Städte durch die alliierten Bomberverbände sowie die heftigen Bodenkämpfe der letzten Kriegswochen sorgten für die massiven Zerstörungen von Wohnhäusern, der Verkehrsinfrastruktur und den im Verlaufe des Krieges ganz auf die Rüstungswirtschaft ausgerichteten Industriebetrieben der Provinz. Rund 45 Prozent der industriellen Kapazitäten gingen so schätzungsweise verloren, wobei die Zahl einer genaueren Prüfung bedarf (vgl. Bienert / Schreckenbach 2010, 99). Gravierender als die Industrie war die Infrastruktur von Kriegsschäden betroffen. Mehr als ein Drittel der Wasserstraßen zwischen Elbe und Oder war noch Ende 1945 nicht befahrbar. 70 Brücken sowie 200 Kilometer Deiche an Elbe, Oder und Havel waren beschädigt oder zerstört. Wichtige Eisenbahnknotenpunkte waren durch Bombenangriffe schwer getroffen. Von den 1.440 Kilometern Schienennetz der landeseigenen Bahn waren nach Kriegsende lediglich 216 Kilometer in Betrieb (vgl. Provinzialregierung 1947, 153).
Die unmittelbar nach Kriegsende beginnenden Demontagen von Rüstungs- und Industriebetrieben durch die sowjetische Besatzungsmacht wirkten sich auf die Kapazitäten des verarbeitenden Gewerbes ähnlich gravierend wie der Krieg selbst aus. Besonders betroffen war die Stadt Brandenburg an der Havel, welche als Zentrum der Rüstungsindustrie über 50 Betriebe aufwies, die auf Anordnung der sowjetischen Militäradministration entweder demontiert oder sequestriert – also von privatem und NS-vorbelastetem Eigentum in die öffentliche Hand überführt – wurden (vgl. Ribbe 1995, 711). Die Auswirkungen der Demontagen verdeutlicht eine Zustandsbeschreibung des Stahlwerkes Brandenburg aus dem Jahr 1948. Die dortige Totaldemontage bedeutete laut einem Zustandsbericht, dass „Gebäude und Werkshallen größtenteils gesprengt“ wurden: „Das Gelände gleicht einem Trümmerfeld, einige Nebengebäude sind als Ruinen vorhanden.“ (BLHA, Rep. 204 A, Nr. 2945, Bl. 27).
Durch die Demontagen büßte Brandenburg seine Schwerindustrie fast vollständig ein. Dies betraf insbesondere die Stahlwerke in Brandenburg, Hennigsdorf und Oranienburg sowie den Lokomotivbau in Babelsberg, Wildau und Hennigsdorf. Insgesamt wurden bis Juni 1946 nach Angaben des Sonderkomitees für Demontagen beim Staatlichen Verteidigungskomitee der Sowjetunion 459 Objekte in Brandenburg demontiert (vgl. Laufer 2002, 51). Laut Provinzialverwaltung wurden dabei 45 Prozent der Industriebetriebe restlos zerstört. Das Gesamtgewicht der demontierten Anlagen belief sich auf knapp eine Million Tonnen, womit die Provinz Brandenburg im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil von allen Ländern der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) am stärksten betroffen war. Auf den enormen Industrialisierungsschub, den Brandenburg durch die nationalsozialistische Aufrüstungspolitik erfahren hatte, war also eine umfassende Deindustrialisierung gefolgt und die Provinz wurde auf eine „agrarisch-kleinindustrielle Wirtschaftsstruktur“ zurückgeworfen (Sattler 2002a, 345).
Wiederaufbau
Ab 1947 begann zunächst der Wiederaufbau der altindustriellen Standorte, freilich ohne die ehemaligen Rüstungsbetriebe. Insbesondere die Rekonstruktion der Stahlstandorte sollte dazu beitragen, die hoffnungslos unterversorgte SBZ mit dringend benötigten Ausgangsmaterialien zu beliefern. Zu diesem Zeitpunkt lag der Anteil der Metallurgie an der industriellen Produktionsleistung in Brandenburg bei unter einem Prozent (vgl. Sattler 2002b, 308). Die Beschlüsse zum Wiederaufbau der Stahlindustrie lassen sich aber auch vor dem Hintergrund des Umdenkens in der Wirtschaftspolitik der Besatzungsmacht verstehen. Hatte die Sowjetunion zunächst nach dem Motto „Alles auf die Räder“ gehandelt, veränderte sich deren Haltung aufgrund des sich abzeichnenden Systemkonflikts (vgl. Karlsch 1993, 102-109). Ab Sommer 1946 entschied sich die Sowjetische Militäradministration zusehends von weiteren umfangreichen Demontagen abzusehen, um die industrielle Überlebensfähigkeit der SBZ zu gewährleisten. Denn nur durch den Erhalt der noch vorhandenen industriellen Kapazitäten konnten die von der Sowjetunion angestrebten Reparationsgüter – vor allem in Form der Sowjetischen Aktiengesellschaften – produziert werden. Abgesehen davon ging der Wiederaufbau der Industrie mit der Einführung planwirtschaftlicher Strukturen nach sowjetischem Vorbild einher. Für Brandenburg bedeutete dies, dass wirtschaftspolitische Entscheidungen zunehmend in Ost-Berlin zentralisiert und Betriebe verstaatlicht wurden. Traditionelle Industriestandorte wurden in der Folge durch die Sowjetische Militäradministration enteignet. Hierzu zählten unter anderem die Schwermaschinenfabrik in Wildau (ehemals Schwartzkopff-Werke), der VEB Kranbau in den früheren Ardelt-Werken in Eberswalde (Abb. 1), die Lokomotiv- und Elektrotechnischen Werke, die aus den AEG-Werken in Hennigsdorf hervorgingen, sowie die chemische Industrie mit ihren Standorten in Premnitz, Schwarzheide und Oranienburg.
SED-Strukturpolitik und neue Industrieansiedlungen
Mit einem strukturpolitischen Neuansatz begann sich ab 1950 das industrielle Gefüge Brandenburgs nachhaltig und umfassend zu ändern. In diesem Jahr entschied sich die SED ein Werk zur Roheisengewinnung in der Nähe von Fürstenberg an der Oder zu errichten, um die wiederaufgebauten Stahlwerke mit dem entsprechenden Ausgangsmaterial zu beliefern, nachdem diese in den ersten Nachkriegsjahren noch auf die großen Mengen vorhandenen Stahlschrotts zurückgegriffen hatten. Die Entstehung des Eisenhüttenkombinates Ost (EKO) (Abb. 2) und seiner dazugehörigen Wohnsiedlung Stalinstadt (ab 1961 Eisenhüttenstadt) markierte den Auftakt für die Ansiedlung einer Reihe von Großbetrieben des verarbeitenden Gewerbes in Brandenburg, insbesondere entlang der Oder-Neiße Linie (vgl. Gayko 2000, 130-138). Die Entscheidung für den Aufbau des EKO auf der „grünen Wiese“ beziehungsweise auf märkischem Sand in einer bis dahin industriell unterentwickelten Region entsprach dabei (neben militärstrategischen Erwägungen) auch der Intention der SED-Führung, die räumlichen Disparitäten so weit wie möglich zu überwinden, das heißt, das Süd-Nord-Gefälle der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der DDR zu reduzieren. Traditionell hatte sich das verarbeitende Gewerbe auf den südlichen Raum Mitteldeutschlands (Sachsen und Thüringen) konzentriert. Anfang der 1950er Jahre umfasste dieser 45 Prozent der Gesamtfläche der DDR, stellte aber 78 Prozent der Industrieproduktion (vgl. Roesler 2017, 70f.).
Mitte der 1950er Jahre beschloss die Staats- und Parteiführung der DDR den zweiten Fünfjahrplan, der unter anderem umfangreiche Investitionen zur Erweiterung der Energiekapazitäten vorsah und erstmals die neu entstandene Verwaltungsstruktur mit den seit 1952 existierenden Bezirken Cottbus, Frankfurt (Oder) und Potsdam berücksichtigte. Ein erster Schritt war der 1956 beschlossene Aufbau eines Kernkraftwerkes in Rheinsberg (Abb. 3). Vor dem Hintergrund der weltweiten Expansion der Erdölchemie sah das 1958 aufgelegte Chemieprogramm die Konzentration von Investitionsmitteln auf die Errichtung von Ölverarbeitungswerken vor. Einen Schwerpunkt bildete der Bau des Petrolchemischen Kombinats in Schwedt (PCK), in welchem unmittelbar an der deutsch-polnischen Grenze das durch die neugebaute Erdölpipeline „Freundschaft“ angelieferte sowjetische Öl verarbeitet werden sollte (Abb. 4). Mit der Grundsteinlegung der Papierfabrik erfolgte ein Jahr später der Aufbau eines zweiten Großbetriebes in Schwedt, dessen Einwohnerzahl von 6.000 im Jahr 1956 innerhalb von nur 15 Jahren auf 38.000 anstieg. Aus der „Ackerbürgerstadt“ wurde so in kurzer Zeit eine sozialistische Industriestadt. 1959 begann der Bau des Halbleiterwerks für Mikroelektronik in Frankfurt (Oder). Das Halbleiterwerk wurde in der Folge zum größten Arbeitgeber der Bezirksstadt. Da die Herstellung synthetischer Fasern für die Textilindustrie ebenfalls als vorrangig betrachtet wurde, beschloss man zudem, in Guben ein neues Chemiefaserwerk auf- und das bereits in Premnitz bestehende Werk auszubauen.
Ende der 1960er Jahre war die strukturelle Neuausrichtung der Industrie in den Brandenburger Bezirken durch Neubauprojekte weitgehend abgeschlossen. Ein letztes großes Innovationsprojekt bildete die Errichtung der industriellen Tierzucht und -verarbeitung im Bezirk Frankfurt. Diese umfasste die Neugründung von drei Betrieben in unmittelbarer Umgebung der Stadt Eberswalde. Der Bau eines Futterwerks, einer Zuchtanlage mit bis zu 200.000 Schweinen sowie ein mit Hilfe westdeutscher Technologie errichtetes Schlachtkombinat schufen bis Mitte der Siebziger Jahre 4.000 neue Arbeitsplätze (vgl. Knoll 2019, 218). Mit der Realisierung der industriellen Tier- und Fleischgroßproduktion endete Mitte der 1970er Jahre die Phase der industriellen Neuansiedlungen in den Brandenburger Bezirken. Die regionale und sektorale Strukturpolitik der SED fokussierte sich nun auf den Ausbau der bestehenden Standorte, deren Beschäftigtenzahlen auch bedingt durch planwirtschaftliche Fehlanreize, den steigenden Reparaturbedarf alter sowie den Bau neuer Anlagen immer weiter anstiegen.
Energiebezirk Cottbus
Nach Kriegsende von größter Bedeutung war die Braunkohleförderung und Brikettproduktion in der Lausitz, deren Kapazitäten rasch ausgebaut wurden. Da die Braunkohle der einzige in ausreichender Menge zur Verfügung stehende Rohstoff zur Energieerzeugung in der DDR war, wurde ihre Erschließung und Verarbeitung forciert. Mit dem Energiebezirk Cottbus wurde dazu 1952 eine Verwaltungseinheit geschaffen, dessen Territorium vorrangig unter wirtschaftsgeographischen Erwägungen definiert worden war. Durch die Einbeziehung sämtlicher ostelbischer Braunkohlegebiete, die zuvor auf die Länder Brandenburg und Sachsen aufgeteilt waren, sollte die Stellung des Bezirkes als „Kohle- und Energiezentrum der DDR“ betont werden (Kotsch 2001, 279). 1951 begann der Bau der Braunkohlekokerei Lauchhammer, welche durch ein neu entwickeltes Herstellungsverfahren den für die Roheisenherstellung wichtigen Koks als Ersatz für die ausbleibenden Lieferungen westdeutscher Steinkohle bereitstellen sollte. Bereits 1952/1953 wurden in der Lausitz die Vorkriegsproduktionsleistungen mit 42 Millionen Tonnen Rohbraunkohle und 12 Millionen Tonnen Braunkohlebriketts erreicht. Das Energie- und Kohleprogamm der SED von 1957 schuf die Grundlage für die Neuaufschlüsse von Tagebauen, die Erweiterung der Kraftwerksleistungen sowie insbesondere die Errichtung eines neuen Braunkohleveredelungskombinats. Mit einem Investitionsaufwand von acht Milliarden Mark entstand daraufhin bis 1961 das Kombinat Schwarze Pumpe (Abb. 5). Auf einem fast 20 Quadratkilometer großen Gebiet zwischen Hoyerswerda und Spremberg verarbeiteten Brikettfabriken, Aufbereitungsanlagen und Kraftwerke den Rohstoff zu Koks, Gas, Teer und Briketts. In der Folge verlagerte sich das Schwergewicht der Braunkohlenförderung und Elektroenergiegewinnung zunehmend vom mitteldeutschen Raum um Halle und Leipzig in das Lausitzer Revier. Während 1950 nur etwas mehr als ein Viertel der gesamten Braunkohleförderung der DDR auf den Bezirk Cottbus entfallen waren, steigerte sich dieser Anteil bis 1971 auf 53 Prozent. Die Bedeutungszunahme der Lausitzer Braunkohlegewinnung und -verarbeitung verstärkte sich noch infolge der Substitution von Öl durch Braunkohle nach den sowjetischen Rohstoffpreiserhöhungen Ende der 1970er Jahre. Mitte der 1980er Jahre war die DDR der größte Braunkohleproduzent der Welt und in der Lausitz wurden etwa zwei Drittel der knapp 300 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert. Die Entwicklung des Bezirkes stellte damit eine der bemerkenswertesten Standortverlagerungen der DDR dar (vgl. Kehrer 2000, 58). Zugleich entstand dadurch in Kreisen wie Calau, Senftenberg oder Spremberg eine ausgeprägte industrielle Monostruktur.
Die Braunkohleförderung in der Lausitz diente einerseits der direkten Verfeuerung der Rohbraunkohle zur Erzeugung von Elektrizität, andererseits der Weiterverarbeitung zu Veredelungsprodukten und Fernwärme. Diesen Zwecken wurde die Struktur der Braunkohlebetriebe angepasst. Die Bildung der Kombinatsstrukturen führte zur Vereinigung von insgesamt 14 Tagebauen im Braunkohlekombinat Senftenberg mit etwa 55.000 Beschäftigten, die für die Förderung der Braunkohle zuständig waren. Mit sechs Kraftwerken in der Lausitz war das Kombinat Braunkohlenkraftwerke für die Verarbeitung der Kohle zur Stromgewinnung verantwortlich. Die mit Abstand größten Braunkohlekraftwerke waren die in den 1960er bis 1980er Jahren auf- und ausgebauten Kraftwerke Boxberg und Jänschwalde mit zusammen etwa 4.500 Beschäftigten. Insgesamt arbeiteten 1989 rund 75.000 Menschen in den 24 Brikettfabriken, 14 Tagebauen und sechs Großkraftwerken des Bezirkes Cottbus. Acht Prozent der Gesamtfläche des Bezirks wurden durch den Bergbau in Anspruch genommen (vgl. Lotzmann 1990, 262). Die Braunkohleindustrie sorgte einerseits für Arbeit und die Errichtung der neuen Wohnstadt Hoyerswerda mit bis zu 70.000 Bewohnern, versursachte andererseits aber erhebliche ökologische Folgeschäden sowie landschaftsverändernde Eingriffe von besonderer Tiefe und Intensität (vgl. Bayerl 2001, 78f). Nur die Hälfte der im Zeitraum von 1949 bis 1989 devastierten Flächen wurde bis zum Ende der DDR wieder nutzbar gemacht. Von der Erschließung neuer Tagebaue und deren Auskohlung waren zudem angrenzende Gemeinden in erheblichem Ausmaß unmittelbar betroffen. Bis 1989 wurden über 100 Ortschaften komplett devastiert, also durch den Tagebau zerstört, beziehungsweise Ortsteile verlegt. Allein zwischen 1981 und 1989 waren 23.000 Menschen von Ortsverlagerungen betroffen. Die psychosozialen Folgen dieser Entwurzelung zeigten sich an einem Sprichwort der sorbischen Minderheit aus dieser Zeit: „Gott hat die Lausitz geschaffen, aber der Teufel die Kohle darunter“.
Ergebnisse und Folgen der sozialistischen Industrialisierungspolitik
Nach einer Phase der Rekonstruktion an bestehenden Standorten entstanden in den Brandenburger Bezirken seit den 1950er Jahren jene Industrien und Branchen, die der DDR als Folge der Teilung fehlten. Hinzu kamen die Autarkiebestrebungen der SED, die den Aufbau neuer Industriezweige aufgrund von Lieferproblemen innerhalb des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe sowie westlicher Wirtschaftsembargos und zur Devisenbeschaffung forcierte. So entstanden bis in die 1970er Jahre in Brandenburg Großbetriebe in der Energieindustrie, der Metallurgie, der Petrochemie oder der Mikroelektronik. Hier waren die Brandenburger Betriebe bisweilen DDR-weit Alleinproduzenten. 100 Prozent der gesamten Polyesterseideproduktion stammte 1989 aus Premnitz und Guben. Sämtliche Haushaltsnähmaschinen wurden in Wittenberge gefertigt (Abb. 6). Zudem kamen 99 Prozent der integrierten Schaltkreise aus dem Halbleiterwerk Frankfurt (Oder) (Abb. 7); das Energiekombinat Schwarze Pumpe produzierte 83 Prozent des Stadtgases. Das Eisenhüttenkombinat Ost war für 79 Prozent der Roheisenproduktion verantwortlich und zwei Drittel des DDR-Zeitungspapiers wurden in der Papierfabrik in Schwedt produziert (vgl. Institut für angewandte Wirtschaftsforschung 1992, 48). Mit dem Aufbau neuer und dem Ausbau bestehender Standorte veränderte sich auch die betriebliche Struktur. Der sozialistische Großbetrieb mit seinen sozialen wie kulturellen Leistungen prägte mehr und mehr die industrielle Arbeitswelt der DDR. Die drei Brandenburger Bezirke zählten 1989 allein 17 Großbetriebe mit je über 5.000 Beschäftigten. Diese Betriebe unterhielten eigene Polikliniken, Betriebsschulen und Kindergärten, Kulturhäuser, Betriebssportgemeinschaften oder Ferienheime. Die Brigaden und Arbeiterkollektive wurden zu einem Sozialisationsort, der von ehemaligen Angestellten keineswegs nur aufgrund marktwirtschaftlicher Erfahrungen aus der Retrospektive positiv bewertet, sondern trotz planwirtschaftlich bedingter Mängel als biografisch prägend empfunden und nach 1990 mit Verlusterfahrungen verknüpft wurde.
Die industriellen Neuansiedlungs- und Ausbauanstrengungen der Staats- und Parteiführung der DDR sorgten für eine erhebliche Veränderung im wirtschaftlichen Gefüge Brandenburgs. Zwischen 1955 und 1975 hatte sich der Anteil der brandenburgischen Bezirke an der gesamten DDR-Industrieproduktion von 8,9 Prozent auf 16,1 Prozent erhöht. Potsdam, Cottbus und Frankfurt (Oder) überholten damit sogar die traditionell stärker industrialisierten thüringischen Bezirke (1975: 15,2 Prozent). Von Mitte der 1950er Jahre bis zum Ende der DDR stieg die Zahl der in den brandenburgischen Bezirken arbeitenden Industriebeschäftigten um 81 Prozent an, während die Gesamtbeschäftigtenzahl aller Branchen mit 17 Prozent vergleichsweise moderat zulegte.
Den stärksten industriellen Zuwachs verzeichnete dabei Frankfurt (Oder), wo die umfangreichen Investitionen in das Petrolchemische Kombinat, den Mikroelektronikstandort sowie in das Eisenhüttenkombinat und die industrielle Tierproduktion in Eberswalde Wirkung zeigten. War Frankfurt 1955 noch der am schwächsten industrialisierte Bezirk Brandenburgs, so trug er Ende der 1980er Jahre am stärksten zur industriellen Bruttoproduktion der Region bei. Ganz im Sinne der von der SED intendierten Wirtschaftspolitik schlussfolgerte eine 1974 veröffentlichte Broschüre über die Bezirke der DDR dementsprechend: „So wurde der Bezirk Frankfurt planmäßig von einem rückständigen preußisch-junkerlich bewirtschafteten Gebiet zu einem sozialistischen Industriebezirk“ umgestaltet (Kohl u.a. 1974, 111).
Allerdings führte die Schaffung sozialistischer Industriebezirke zu einer Reihe von Problemen, die den Übergang von der Plan- in die Marktwirtschaft erheblich erschweren sollten. Zwar gelang es der SED auf nationaler Ebene räumliche Disparitäten im Süd-Nord-Gefälle zu mindern, errichtet wurden in Brandenburg aber zumeist „Großbetriebe in Insellage“, die den monostrukturellen Charakter der jeweiligen Standorte prägten (Kehrer 2000, 59). Anstatt einen durch interne Verflechtungsprozesse verbundenen Wirtschaftsraum zu schaffen, entstand viel eher ein Nebeneinander mehrerer Industriegebiete, das durch die Bildung der Kombinatsstrukturen noch verstärkt wurde (Mieck 2009, 177). In periphere Regionen ausgelagerte Kombinatsteile entwickelten sich so zu monostrukturellen Gebieten kleineren Maßstabs in ländlichen Räumen. Dadurch wurden Ungleichgewichte in der regionalen Wirtschaftsstruktur wie sie schon vor dem Zweiten Weltkrieg existierten nicht etwa verringert, sondern durch die Neuansiedlungen noch verfestigt und ausgeweitet. Letztere führten zur Bildung von „single-factory towns“, also dem Entstehen von Städten, deren Bewohner wie zum Beispiel in Eisenhüttenstadt, Premnitz oder Schwedt größtenteils im nahegelegenen Großbetrieb beziehungsweise dessen Infrastruktur tätig waren (Klaphake 2000, 17).
Letztlich war die Entwicklung des verarbeitenden Gewerbes in Brandenburg bis 1989 durch die Notwendigkeiten eines abgetrennten Wirtschaftsraumes sowie politische Grundsatzentscheidungen bedingt. Verbunden war der industrielle Wiederauf- oder Neubau mit großen Anstrengungen, die vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der SBZ/DDR enorme Leistungen darstellten. Mit der Veränderung der ökonomischen Rahmenbedingungen ergaben sich durch die Wiedervereinigung allerdings fundamentale Fragen nach den unternehmerischen Perspektiven dieser vielfach monostrukturierten Standorte, die in privatwirtschaftliche Strukturen überführt werden sollten.
Quellen
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Literatur
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Karlsch, Rainer: Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR 1945-1953. Berlin 1993.
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Abbildungsnachweis
Abb. 1 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fotothek_df_roe-neg_0006508_007_Kran_des_VEB_Kranbau_Eberswalde,_Technische_Messe_1953.jpg (Foto: Roger Rössing - CC BY-SA 3.0).
Abb. 2 https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/e8/Bundesarchiv_Bild_183-17138-0003%2C_Eisenh%C3%BCttenkombinat_Ost.jpg (Foto: Horst Sturm - CC BY-SA 3.0).
Abb. 3 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-E0506-0004-007,_Rheinsberg,_Kernkraftwerk.jpg (Foto: Ulrich Kohls - CC BY-SA 3.0).
Abb. 4 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-Z0413-010,_Schwedt,_petrochemisches_Kombinat.jpg (Foto: Müller - CC BY-SA 3.0).
Abb. 5 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fotothek_df_n-22_0000588_Produkte.jpg (Foto: Eugen Nosko - CC BY-SA 3.0).
Abb. 6 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-63843-002,_N%C3%A4hmaschinenwerk_Wittenberge.jpg (Foto: Weiß - CC BY-SA 3.0).
Abb. 7 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:HFO_C574C.jpg (Foto: Drahtlos - CC BY-SA 4.0.
Empfohlene Zitierweise
Knoll, Wolf-Rüdiger: Sozialistische Industrialisierung – Die Entwicklung des verarbeitenden Gewerbes in Brandenburg vom Zweiten Weltkrieg bis zum Mauerfall (1945-1989), publiziert am 14.03.2022; in: Industriegeschichte Brandenburgs, URL: http://www.brandenburgikon.de (TT.MM.JJJJ)