Industrialisierung in Brandenburg bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges
Wolf-Rüdiger Knoll
Voraussetzungen und Ressourcen
Ausgangspunkt der Industrialisierung Brandenburgs war Berlin, das mit der Provinz einen sozio-ökonomischen Verflechtungsraum bildete und bis 1881 auch faktisch ein Bestandteil der damaligen Provinz Brandenburg war. Neben der Regierung saßen in Berlin auch die obersten Behörden von Staat und Armee. Die Stadt entwickelte sich zu einem Verkehrsknotenpunkt. Zahlreiche Lehranstalten und naturwissenschaftlich-technische Einrichtungen brachten Techniker und Ingenieure hervor, deren Erfindungen und Patente den Grundstein für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Industrie legten. Von dieser Entwicklung profitierte Brandenburg, denn sie legte auch den Grundstein für die Expansion der gewerblichen Unternehmen, indem das Berliner Umland ausreichend Grund und Boden sowie die benötigten Arbeitskräfte für die Ausweitung der Produktionskapazitäten bereitstellen konnte.
Der Zeitpunkt der einsetzenden Industrialisierungsprozesse in Europa war zunächst maßgeblich durch regionalen Gegebenheiten, also die geographische Lage, das Klima, die Bodenfruchtbarkeit und insbesondere die Rohstoffvorkommen geprägt. Die „märkische Streusandbüchse“ erschien dafür mit ihren wenigen Bodenschätzen nicht gerade als bevorzugte Wirtschaftsregion (Materna 1999, 94). Als Brennmaterial für die gewerblich-industrielle Nutzung bot sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts neben Holz in erster Linie der in größeren Mengen vorhandene Torf an. Insbesondere in der Region des Finowtals sowie bei Storkow wurde Torf für die brenntechnische Versorgung der frühen Metallverarbeitung um Eberswalde sowie der Kalköfen in Rüdersdorf gestochen. Durch die Erweiterung der gewerblichen Produktion, welche insbesondere auf das rasante Wachstum Berlins zurückzuführen war, wurden für den zunehmenden Einsatz von Dampfmaschinen ertragreichere Brennstoffe als Holz und den aufwendig zu transportierenden Torf benötigt. Hier konnte die ergiebigere, in weiten Teilen der Mark praktisch unbegrenzt vorhandene Braunkohle Abhilfe schaffen. Der Schwerpunkt des beginnenden Braunkohletagebaus, der innerhalb weniger Jahre immens an Bedeutung gewann, lag zunächst im Raum Frankfurt (Oder). Mit Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konzentrierte sich die Braunkohleförderung zunehmend auf die Niederlausitz, da hier größere Flözmächtigkeiten sowie ein geringeres Deckgebirge bessere Abbaumöglichkeiten boten. Die Erfindung der Brikettpresse 1856 verbesserte die Transportfähigkeit der Braunkohle erheblich und deren Abbau sowie die Brikettproduktion expandierten in der Region um Senftenberg innerhalb der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damit errang die Braunkohle eine überregional-ökonomische Bedeutung für die Lausitz. Um 1890 existierten bereits 60 Brikettpressen. Die Fördermengen schnellten von 1,4 Millionen Tonnen im Jahr 1878 auf 24 Millionen Tonnen Braunkohle im Jahr 1912 hoch. Anfang des 20. Jahrhunderts arbeiteten bereits 15.000 Menschen in den Lausitzer Tagebauen und Braunkohlewerken. Die Braunkohle hatte sich zur „industriellen Destination der Lausitz entwickelt“ (Bayerl 2012, 269) (Abb. 1).
Bedarf für die Nutzung der Braunkohle als Brennstoff bestand unter anderem in der Bauwirtschaft. Rüdersdorf entwickelte sich aufgrund der dort vorhandenen Kalkvorkommen zu einem Zentrum der Kalksteinverarbeitung mit Steinbruch und Kalkbrennereien, welche von Berlins wachsendem Bedarf an Baumaterialien profitierte. Neben dem Einsatz in Berlin fanden Rüdersdorfer Kalksteine auch ihre Verwendung im Bau von Festungsanlagen in Stettin, Küstrin und Posen. Die Produktion von rohem und bearbeitetem Kalkstein stieg bis Mitte des 19. Jahrhunderts auf etwa 50.000 Tonnen und steigerte sich bedingt durch die wachsende Nachfrage nach Baumaterialien in Berlin erheblich (Büsch 1971, 63) (Abb. 2). Davon profitierte auch die Ziegelindustrie in Zehdenick, welche sich auf die im ganzen Land Brandenburg vorhandenen Tonvorkommen stützte. Mit der Einführung der Strangpresse 1856 konnte die wachsende Nachfrage nach Kalk- und Ziegelsteinproduktion zum Bau von gewerblichen und Wohnräumen in Berlin und den entstehenden kommerziell-gewerblichen Zentren Brandenburgs abgedeckt werden. Dies sorgte in der Folge für eine Vervierfachung der Beschäftigtenzahlen in diesem Sektor zwischen 1800 und 1849.
Im Gegensatz zu den anderen frühen industriellen Zentren Preußens bot der Raum Berlin-Brandenburg für die entstehende Metallindustrie ungünstige Ressourcenvorkommen. Eisenerze kamen im Wesentlichen nur als Raseneisensteine vor. Zwar wurden entlang der Neiße sowie im Fintowtal und in der Niederlausitz mehrere Tausend Zentner Roheisen jährlich verhüttet, doch stellte dies im Verhältnis zu den rheinischen und schlesischen Werken, die zusammen 97 Prozent des gesamten in Preußen gewonnenen Roheisens produzierten, eine sehr bescheidene Ausbeute dar (Büsch 1971, 65). Die Erzeugung von Brandenburger Hüttenroheisen endete daher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Stattdessen setzte man für die Metallverarbeitung auf Vorprodukte aus Schlesien und dem Rheinland, die sich durch die verbesserten Transportkapazitäten – insbesondere durch Eisenbahn und Schifffahrtswege - kostengünstiger importieren ließen.
Bevölkerungswachstum und Ausbau der Infrastruktur
Mit dem Aufstieg Preußens zur dominierenden deutschen Großmacht und der Bedeutungszunahme Berlins als politischem Zentrum vollzog sich in der Hauptstadt ein rasanter Prozess des demographischen und wirtschaftlichen Wachstums. Zwischen 1849 und 1910 vervierfachte sich die Bevölkerungszahl Berlins von 420.000 auf 2.070.000 Einwohner. Dieser rasante Zuwachs basierte vor allem auf Wanderungsgewinnen, die sich in erster Linie aus dem näheren Umfeld der entstehenden Metropole – und damit aus Brandenburg – speisten. Die Sogwirkung Berlins verhinderte jedoch nicht, dass auch die die beiden Brandenburger Regierungsbezirke Potsdam und Frankfurt (Oder) im gleichen Zeitraum eine Verdopplung der Einwohnerzahlen von 2.035.000 auf 4.090.000 Einwohner verzeichneten. Die Zunahme ließ sich maßgeblich auf die Entwicklungen der hauptstadtnahen Gemeinden bzw. Städte zurückführen. Im Regierungsbezirk Potsdam etwa stiegen die Einwohnerzahlen allein in einem Umkreis von 15 Kilometern Entfernung zu Berlin zwischen 1871 und 1905 von 103.000 auf 1.162.000 und damit um das Elffache an (Escher 1993, 738). In Regionen wie der Ostprignitz oder dem Spreewald stagnierte die Bevölkerungszahl hingegen oder ging sogar leicht zurück. Diese landwirtschaftlich dominierten Kreise litten besonders unter den Abwanderungsprozessen Richtung Berlin und Umgebung.
Als wichtige Stütze der industriellen Entwicklung Brandenburgs fungierte der Ausbau der Verkehrs- und Transportwege. Seit dem frühen 19. Jahrhundert erfolgte ein sternförmig von Berlin ausgehender Ausbau des Straßennetzes. Von der Anbindung der Hauptstadt an große Städte wie Hamburg, Stettin, Königsberg, Breslau, Leipzig oder Magdeburg profitierten auch die brandenburgischen Regionen entlang dieser Verkehrswege, die ihre Produkte über die Chausseen schneller zu den Abnahmemärkten transportieren konnten. Daraus ergab sich ein „signifikanter Multiplikatoreffekt“ für die Unternehmen der Provinz (Radke 2016, 576). Ergänzt und ausgeweitet wurde dieser Effekt durch den Ausbau der Wasserwege. Zu den frühesten Kanalbauten gehörten der die Oder mit der Havel verbindende Finowkanal sowie der Oder-Spreekanal. Beide wurden bereits im 18. Jahrhundert angelegt. Die beginnende Dampfschifffahrt ermöglichte größere Transportkapazitäten, erforderte allerdings auch eine Anpassung der natürlichen Flusssysteme. Während im 19. Jahrhundert der Schwerpunkt auf die Ausweitung der bestehenden Kapazitäten gelegt wurde, war das frühe 20. Jahrhundert durch die Fertigstellung einer Reihe von Großkanalbauten geprägt. Hierzu zählte zunächst die Einweihung des Rüdersdorfer Kanals 1903, der die Kalksteinlagerstätten an die Spree band. Bedeutende Effekte auf das Brandenburger Gewerbe hatten zudem die Fertigstellungen des 37 Kilometer langen Teltow-Kanals im Jahr 1906 sowie des großen Oder-Havel-Kanals 1914. Gleichwohl noch größere Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung Brandenburgs hatte der Eisenbahnbau. Auch hier erfolgte die Entwicklung ähnlich den anderen Verkehrswegen von Berlin ausgehend. Die erste Eisenbahn auf Brandenburger Boden verband seit 1838 die Hauptstadt Berlin mit der Residenzstadt Potsdam. Weitere Verbindungen wie die Anhalter Bahn nach Köthen, die Strecken Berlin-Stettin, Berlin-Frankfurt (Oder) und Berlin-Hamburg folgten. Von diesen Bahnstrecken profitierten Standorte wie Eberswalde, Pritzwalk oder Brandenburg an der Havel im Besonderen, da sie entweder direkt an den Hauptlinien lagen oder durch Nebenbahnen an diese angeschlossen wurden.
Frühindustrielle Zentren
Als Wiege der brandenburgischen Industrie gilt das etwa 70 Kilometer nordöstlich von Berlin gelegene Gebiet des Finowtals rund um das heutige Eberswalde. Dieses früheste, etwa seit Anfang des 17. Jahrhunderts entstandene, industriell-gewerbliche Zentrum der Mark Brandenburg erwarb sich einen Ruf als „Märkisches Wuppertal“, nachdem dort die industrielle Metallverarbeitung Brandenburgs mit der Gründung einer Eisenspalterei, eines Kupferhammers und eines Messingwerks ihren Ausgang genommen hatte (Seifert / Bodenschatz / Lorenz 1998, 13-22) (Abb. 3). Voraussetzungen für die gewerbliche Entwicklung waren die vorhandenen Ressourcen. Hierzu zählten Rasenerze, Wasserkraft und Holz sowie insbesondere die Anbindung an die Wasserwege. Neben Eberswalde bildete Brandenburg an der Havel mit der Gründung der Gießerei Elisabethhütte einen frühen Schwerpunkt der Metallverarbeitung.
Um 1850 spielte die Industrie in Brandenburg allerdings insgesamt nur eine sehr untergeordnete Rolle: „Bis zur Jahrhundertmitte blieb die Provinz Brandenburg das, was sie schon immer gewesen war, ein Agrarland.“ (Radtke 2008, 194) 1849 arbeiteten 59 Prozent der Beschäftigten der Provinz Brandenburg in der Land- und Forstwirtschaft, während das Gewerbe 29 Prozent zur Gesamtwirtschaftsleistung beitrug (Handel- und Dienstleistungen: 12 Prozent). Der gewerbliche Sektor wurde Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Bekleidungs- und Textilwirtschaft dominiert (44 Prozent der Beschäftigten). Das Textilgewerbe, die Produktion und Veredelung von Tuchen, Stoffen und Geweben diente dabei letztlich als Motor der industriellen Entwicklung Brandenburgs. Hier zeigte sich erstmals eine Form der Abwanderung aus dem Produktionszentrum Berlin in die umliegenden Gebiete. Zwischen 1849-1875 sank die Zahl der im Textilgewerbe Beschäftigten in Berlin von 19.200 auf 14.900 Personen. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Textilarbeiter in Brandenburg von 34.000 auf 46.300. (Büsch 1976, 91). Da die technologische Weiterentwicklung durch den Einsatz von Spinnmaschinen, mechanischen Webstühlen und dampfgetriebenen Arbeitsmaschinen billige Massenproduktionen ermöglichte, entwickelte sich ein starker Wettbewerb zwischen Berliner Textilbetrieben und günstigen englischen Konkurrenzunternehmen. In der Konsequenz führte dies zu einer Abwanderung der beschäftigungsintensiven Betriebe der Textilverarbeitung aus dem Zentrum in die Peripherie. Die im ländlichen Raum Brandenburgs vorhandenen, zahlreichen und billigen Arbeitskräfte sowie niedrigere Lebenshaltungskosten führten zu einer starken Ausweitung der Textilwirtschaft in Orten wie Luckenwalde (welche als Tuchmacherstadt eine überregional wichtige Industriestadt „par excellence“ wurde), Brandenburg an der Havel und in der Prignitz nördlich von Berlin. In Pritzwalk etwa begründete die Familie Quandt mit dem Auf- und Ausbau einer Textilfabrik in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts ihren Aufstieg zu einer der führenden Unternehmerfamilien Deutschlands. Darüber hinaus siedelten sich insbesondere in der Niederlausitz zahlreiche Betriebe an. Orte wie Guben, Spremberg, Forst (aufgrund seiner ausgeprägten Industriestruktur auch als „deutsches Manchester“ bezeichnet) und Cottbus wurden zu Zentren der Textilwirtschaft (Bayerl 2012, 326-339) (Abb. 4, 5). 1907 arbeiteten 70.000 Menschen in der Brandenburger Textilindustrie. Wie in anderen Teilen Deutschlands diente das Textilgewerbe damit als Schrittmacher und Leitgewerbe der industriellen Produktion Brandenburgs.
Früher als die Textilindustrie, aber lokal begrenzt, bildete Rathenow das frühe Zentrum der optischen Industrie in Deutschland. 1801 begann Johann August Heinrich Duncker mit der deutschlandweit erstmaligen, fabrikmäßigen Produktion von geschliffenen Brillengläsern und -fassungen auf der Basis der von ihm entwickelten Vielfschleifmaschine. Die von Duncker begründete „Königlich privilegierte optische Industrie-Anstalt“ begann zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem Verkauf von Brillen. 1843 wurden in Rathenow bereits 40.000 Fassungen und mehr als 250.000 Brillengläser hergestellt (Götze 2020, 23) (Abb. 6). Die Nachfolger Dunckers bauten nicht nur eine über die ganze Stadt in vielen Klein- und Kleinstbetrieben verteilte optische Industrie auf, sondern errangen damit eine führende Rolle in der Herstellung von Brillengläsern und -fassungen. 1896 existierten in Rathenow bereits 163 optische Betriebe. Im größten Betrieb der Stadt arbeiteten 1890 500 Menschen. Rathenow entwickelte sich mit der Produktion von Brillen, Ferngläsern und Mikroskopen zur „Stadt der Optik“ und damit zu einem Vorreiter der industriellen Produktion auf diesem Gebiet.
Die Entwicklung der chemischen Industrie nahm ihren Ausgang in Berlin, wo für die Textilindustrie Farbstoffe, Seifen und Chemikalien hergestellt wurden. Nördlich von Berlin entwickelten sich in Oranienburg die ersten chemischen Fabrikationsstätten in Brandenburg. 1814 begann der Apotheker Ferdinand Runge mit der Herstellung von Karbolsäure und Anilin (Teerfarben). Aus diesem Betrieb heraus entwickelte sich die Produktion von Schwefelsäure, Salmiak und dem Steinkohlenteer Phenol. Oranienburg prägte die Entwicklung der chemischen Industrie in Brandenburg und wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einer „industriellen Trabantenstadt“ Berlins (Adamy 1995, 530). In Fürstenwalde wurde 1829 die erste deutsche Kautschukwarenfabrik eröffnet. 1852 siedelte sich in Eberswalde das deutschlandweit erste Werk zur Dachpappenproduktion an. In Erkner eröffnete 1860 ein Unternehmen der Teerdestillation. Darüber hinaus entwickelte sich die chemische Industrie vor allem im „Speckgürtel“ Berlins, wo sich auf die Produktion von Farben und Lacke spezialisierte Unternehmen u. a. in Charlottenburg (seit 1833), Tempelhof (1876), Köpenick (1882) ansiedelten (Schmieder 1968, 370). Letztlich kam der chemischen Industrie in Brandenburg im 19. Jahrhundert jedoch eine im Vergleich nur geringe Bedeutung zu. Der Anteil der Beschäftigten am Gesamtgewerbe lag 1875 bei gerade 1,7 Prozent, während die Textil- und Bekleidungsindustrie (36 Prozent), die Herstellung von Nahrungs- und Genussmitteln (11 Prozent) sowie die Bauindustrie (10 Prozent) die gewerbliche Struktur der Provinz prägten (Büsch 1976, 69).
Zu diesem Zeitpunkt, wenige Jahre nach der Bildung des Deutschen Kaiserreiches und mithin am Ende der als „Take-off“ bezeichneten, ersten Hochphase der industriellen Entwicklung Deutschlands, erreichte das Gewerbe insgesamt (38 Prozent) auch in Brandenburg noch keine dominierende Stellung gegenüber der Land-/ Forstwirtschaft, die mit 51 Prozent mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze in der Provinz stellte (Müller/Müller 1995, 444). Zudem zeigte sich, dass die Phase der Industriellen Revolution bis 1875 zu einer Entleerung bzw. Ausdünnung ländlicher und kleinstädtischer Räume zugunsten der gewerblich-industriellen Konzentration in relativ wenigen großstädtischen Ballungszentren führte. Die gewerbliche Produktion blieb dabei kleinteilig. Von 325.000 Beschäftigten in der Industrie war 1890 nur etwas mehr als ein Drittel in Betrieben mit mehr fünf Mitarbeitern beschäftigt.
Randwanderungen der Berliner Betriebe und Phase der Hochindustrialisierung
Ende des 19. Jahrhunderts wurde Brandenburg von zwei Industrialisierungswellen erfasst, die ihren Ursprung einmal mehr in Berlin hatten. Während sich die Bevölkerung in der Hauptstadt zwischen 1871-1910 mehr als verdoppelte, veränderte sich die Fläche trotz des immensen Bevölkerungswachstums kaum. Den neu gegründeten Berliner Unternehmen des Maschinenbaus und der Elektroindustrie fehlte es im Zuge der Expansion ihrer Produktionsstätten an den nötigen Industrieflächen, sodass neue Standorte außerhalb Berlins erschlossen wurden. Diese Randwanderung erstreckte sich auf stadtnahe Bereiche. Unternehmen wie Siemens & Halske (nach Charlottenburg), AEG (Oberschöneweide) und Borsig (Tegel) verlagerten ihre Industrieanlagen vor die Tore der Stadt, um eine gewinnorientierte Ausdehnung der Produktion dauerhaft garantieren zu können. So entstanden Zweig- bzw. Filialbetriebe der Berliner Großindustrie auf Brandenburger Gebiet (Adamy 1995, 532). Eine ergänzende Randwanderung der Berliner Betriebe konzentrierte sich dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf einen Umkreis von 30-50 Kilometern außerhalb der Stadtgrenzen. Vor dem Hintergrund der verbesserten verkehrsgeographischen Anbindungen des Umlandes errichteten z.B. das Beleuchtungsunternehmen Julius Pintsch AG (in Fürstenwalde), die Berliner Maschinenbau AG (Wildau) (Abb. 7) und die AEG (Hennigsdorf) neue Großstandorte in Brandenburg (Materna 1999, 94).
Eine zweite Industrialisierungswelle ging in der Phase vor dem Ersten Weltkrieg von Unternehmensneuansiedlungen in Brandenburg aus, die sich primär neue Absatzmärkte im rasch expandierenden Berlin erhofften. Diese Produktionsstandorte lagen weiter von Berlin entfernt in der Brandenburger Peripherie, entwickelten sich aber rasch zu industriellen Großbetrieben. Brandenburg an der Havel bildete dabei einen Schwerpunkt. 1871 gründeten hier die Gebrüder Reichstein eine Firma, die sich zunächst auf die Herstellung von Korbwaren und Kinderwagen spezialisierte. Anfang der 1880er Jahre begann das Unternehmen auch die neuartigen englischen Zweiräder zu montieren und schließlich in Eigenregie komplett nachzubauen. Seit 1892 wurden in Brandenburg Fahrräder mit Luftbereifung, Zahnrädern und Ketten unter dem Namen „Brennabor“ gebaut. Das Unternehmen expandierte aufgrund der enorm hohen Nachfrage nach Kinderwagen und Fahrrädern rasant. 1896 arbeiteten im Werk 1.800 Mitarbeiter, die 75.000 Kinderwagen herstellten. Um die Jahrhundertwende wurden im Werk bereits 40.000 Fahrräder jährlich produziert (Krause 1998, 437).
Auch internationale Investoren zog es in der Phase der Hochindustrialisierung nach Brandenburg. 1902 kaufte die US-amerikanische „Singer Manufacturing Co.“, damals weltweit führender Hersteller von Nähmaschinen, ein Gelände in Wittenberge im Nordwesten der Provinz, um dort eine Produktion für industriell gefertigte Nähmaschinen für den deutschen Markt aufzubauen. Wittenberge bot für dieses Vorhaben einen doppelten Standortvorteil, da es einerseits mittig zwischen Hamburg und Berlin und andererseits zugleich direkt an der Elbe lag. 1904 begann die Montage der ersten Nähmaschinen, 1907 hatte das Werk 400 und 1913 etwa 2.000 Beschäftigte (Muchow 1999, 11) (Abb. 8). Das „Singer“-Werk stieg schnell zum wichtigsten Betrieb der Stadt auf – noch vor der Ölmühle, der Tuchfabrik und den Eisenbahnwerkstätten. Der 1928-29 errichtete, 50 Meter hohe Singer Wasser- und Uhrenturm, manifestierte auch im Stadtbild das Verständnis, dass sich Wittenberge seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer Stadt der Nähmaschinen entwickelt hatte.
Mit der Gründung der „Ardelt“-Werke entwickelte sich auch im Nordosten Berlins zudem ein wichtiger Standort des Maschinenbaus, der für die Brandenburger Industrie eine überregionale Bedeutung bekommen sollte. Robert Ardelt eröffnete 1902 in Eberswalde ein technisches Ingenieurbüro. Nachdem der Tätigkeitsschwerpunkt zunächst in Umbauten und Reparaturen von Mühlen, Kränen, Motoren und Baggern bestand, spezialisierte sich das Unternehmen nach dem Ankauf neuer Produktionsstätten auf die Herstellung von Gießereimaschinen und verschiedener Krantypen (Wühle / Wühle 2015, 158f.) (Abb. 9).
Vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich das verarbeitende Gewerbe in Brandenburg zum dominierenden Wirtschaftszweig entwickelt (siehe Tabelle 1). In einer landeskundlichen Überblicksdarstellung aus dem Jahr 1910 wird dieser Prozess sowohl zeitlich als geografisch eindeutig verortet:
„Die hervorragende Stellung, welche gegenwärtig die Industrie im Wirtschaftsleben der Provinz Brandenburg einnimmt, hatte sie nicht von jeher inne, sondern sie ist das Ergebnis erst der neuesten Entwicklung. […] Die Verschiebung ist wesentlich die Folge des Wachstums der Berliner Vororte, welches der Industrie und dem Handel eine wesentliche Verstärkung, der Landwirtschaft aber Verluste brachte.“ (Meinrich 1910, 90f.)
1882 |
1895 |
1907 |
|
Landwirtschaft, Gärtnerei und Forstwirtschaft, Tierzucht und Fischerei
|
1.012.146 (51,2%) |
962.789 (41,2%) |
885.889 (29,6%) |
Industrie einschließlich Bergbau und Baugewerbe
|
747.681 (37,8%) |
1.055.392 (45,1%) |
1.568.395 (52,4%) |
Handel und Verkehr einschl. Gast- und Schankwirtschaft
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216.775 (11%) |
319.401 (13,7%) |
541.135 (18%) |
Insgesamt |
1.976.602 (100%) |
2.337.582 (100%) |
2.995.419 (100%) |
Tabelle 1: Anzahl der Berufstätigen in der Provinz Brandenburg nach Wirtschaftssektoren (Anteil in %)
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich in der Provinz unterschiedliche regionale industrielle Schwerpunkte herausgebildet. Die Nähe zur Metropole Berlin hatte in den hauptstadtnahen Gebieten wie an der Oberhavel zu Ansiedlungen von AEG in Hennigsdorf und chemischen Betrieben in Oranienburg geführt. An der Oberspree/Dahme entstanden in Fürstenwalde und Rüdersdorf wichtige Betriebe der Elektro- und der Kalksteinindustrie. Eberswalde, die Wiege der Brandenburger Industrie, erhielt mit den Ardelt-Werken sowie dem Aufbau einer Eisengießerei im nahen Britz neue Impulse und in Potsdam-Babelsberg begann 1899 der Lokomotivbau und seit 1911 der Aufbau einer Filmindustrie, die in der Weimarer Republik ihre Blütezeit erlebte. Aber auch die hauptstadtferneren Regionen erhielten wichtige Impulse durch die Industrialisierung, allen voran die Niederlausitz und der östliche Fläming mit seinen Zentren der Textil- und der Braunkohleindustrie. An der Unterhavel wurde in der Stadt Brandenburg an der Havel durch Brennabor die Maschinenbauindustrie auf eigene Beine gestellt, während Rathenow sich zu dem Zentrum der optischen Industrie im Kaiserreich entwickelt hatte. Und während im Oder-Warthegebiet vorwiegend Nahrungs- und Genussmittel (u.a. Tabak) zunächst gewerblich, zunehmend auch industriell produziert und vereinzelt auch spezielle Waren (Jute in Landsberg) hergestellt wurden, erfuhr sogar der traditionell dünn besiedelte Norden der Provinz in der Prignitz mit dem Singer-Nähmaschinenwerk und der Quandt’schen Textilfabrik in Pritzwalk wichtige industrielle Impulse.
Die Randwanderung der Berliner Betriebe in die Brandenburger Städte des Umlands, die Neuansiedlungen von Unternehmen sowie das Wachstum der Industrieregion der Lausitz führten dazu, dass Brandenburg im Hinblick auf die Zahl der Beschäftigten (805.000) im verarbeitenden Gewerbe (ohne Bergbau und Bauwirtschaft) zu Berlin (854.000) aufschloss (Statistisches Jahrbuch für den Preußischen Staat 1913, 175). Auch hinsichtlich Betriebsgrößen holten die Brandenburger Betriebe bis 1907 (4,24 Beschäftigte je Betrieb) im Vergleich zu Berlin (4,7 Beschäftigte je Betrieb) auf. Im Vergleich von Bevölkerung und Industriebeschäftigten zeigte sich vier Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges jedoch auch, dass in Brandenburg zwar in etwa doppelt so viele Menschen wie in Berlin lebten, die Peripherie jedoch nicht einmal halb so stark industrialisiert war wie die Hauptstadt des Deutschen Reiches.
Quellen
Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Bd. 1880.
Statistisches Jahrbuch für den Preußischen Staat 1913 und 1914.
Literatur
Adamy, Kurt: Die preußische Provinz Brandenburg im Deutschen Kaiserreich (1871 bis 1918). In: Materna, Ingo / Ribbe, Wolfgang (Hrsg.): Brandenburgische Geschichte. Berlin 1995, S. 503–560.
Bayerl, Günter: Peripherie als Schicksal und Chance. Studien zur neueren Geschichte der Niederlausitz. Münster 2012.
Büsch, Otto: Industrialisierung und Gewerbe im Raum Berlin/Brandenburg, 1800–1850, Band 1: Eine empirische Untersuchung zur gewerblichen Wirtschaft einer hauptstadtgebundenen Wirtschaftsregion in frühindustrieller Zeit. Berlin 1971.
Büsch, Otto: Industrialisierung und Gewerbe im Raum Berlin/Brandenburg 1800–1850, Band 2: Die Zeit um 1800 / Die Zeit um 1875. Berlin 1976.
Escher, Felix: Brandenburg und Berlin 1871–1914/18 In: Heinrich Gerd u. a. (Hrsg.): Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands 1815–1945. Organisation – Aufgaben – Leistungen der Verwaltung. Stuttgart u.a. 1993, S. 738–757.
Götze, Bettina: Rathenow – von Johann Heinrich August Duncker bis zur „Stadt der Optik“. In: Götze, Bettina / Mertens, Joachim (Hrsg.): Rathenow. Wiege der optischen Industrie. Berlin 2020, S. 12–49.
Krause, Bernd: Fahrräder, Automobile und Traktoren, in: Heinrich, Gerd u. a. (Hrsg.): Stahl und Brennabor. Potsdam 1998, S. 433–437.
Materna, Ingo: Die Mark als Industriestandort im 19. und 20. Jahrhundert. In: Enders, Liselott / Neitmann, Klaus (Hrsg.): Brandenburgische Landesgeschichte heute. Potsdam 1999, S. 91-102.
Meinrich, Theodor: Die Bevölkerung. In: Friedel, Ernst / Mielke, Robert (Hrsg.): Landeskunde der Provinz Brandenburg, Bd. 2: Die Geschichte. Berlin 1910, S. 53–112.
Muchow, Heinz: Wie Wittenberge einst die Stadt der Nähmaschinen wurde. Wittenberge 1999.
Müller, Hans-Heinrich / Müller, Harald: Brandenburg als preußische Provinz. Das 19. Jahrhundert bis 1871. In: Materna, Ingo / Ribbe, Wolfgang (Hrsg.): Brandenburgische Geschichte. Berlin 1995, S. 395–502.
Radtke, Wolfgang: Gewerbefreiheit, Industrialisierung und neuer Mittelstand in Brandenburg vornehmlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Industrie- und Handelskammer Cottbus (Hrsg.): Brandenburgs Mittelstand. Auf dem langen Weg von der Industrialisierung zur Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts. Münster 2008, S. 183-212.
Ribbe, Wolfgang: Berlin-Brandenburg als historisches Verflechtungsgebiet. In: Piethe, Marcel: Hie gut Brandenburg allewege. Landeskundliche Beiträge. Festschrift auf 20 Jahre „Die Mark Brandenburg“. Berlin 2010, S. 68-76.
Schmieder, Eberhard: Wirtschaft und Bevölkerung. In: Herzfeld, Hans u.a. (Hrsg.): Berlin und die Provinz Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin 1968, S. 309-422.
Seifert Carsten / Bodenschatz, Harald / Lorenz, Werner: Das Finowtal in Barnim. Wiege der brandenburgisch-preußischen Industrie. Berlin 1998, 13-22.
Wühle, Christina / Wühle, Eberhard: Die Ardelt-Werke in Eberswalde. In: Eberswalder Jahrbuch für Heimat-, Kultur- und Naturgeschichte 2015. Eberswalde 2015, S. 158–169.
Abbildungsnachweis
Abb. 1, 2, 4, 8 Gemeinfrei
Abb. 3 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Blechen_WalzwerkEberswalde.JPG
Abb. 5 Forst (Lausitz) und seine Industrie in Wort und Bild. Forst 1907.
Abb. 6 Archiv Optik Industrie Museum/Archiv Kulturzentrum Rathenow.
Abb. 7 Studieren in Wildau. Ein Hochschul-Porträt in Bildern. Wildau 2013
Abb. 9 Schneller, Sabine u.a.: Die Geschichte der Unternehmen der Kranunion. Leipzig 2013.
Empfohlene Zitierweise
Knoll, Wolf-Rüdiger: Industrialisierung in Brandenburg bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, publiziert am 25.06.2022; in: Industriegeschichte Brandenburgs, URL: http://www.brandenburgikon.de (TT.MM.JJJJ)