Matthias Asche, Vinzenz Czech, Frank Göse, Klaus Neitmann

Der den Titel dieses Buches dominierende Begriff Erinnerungsort erfreut sich in der internationalen wie in der deutschen Geschichtswissenschaft seit den 1980er Jahren zunehmender Beliebtheit und ist mittlerweile in zahlreichen Veröffentlichungen aufgegriffen worden, bedarf aber zum rechten Verständnis der mit ihm verfolgten historischen Thematik einer Erläuterung. Insbesondere ist es notwendig, über den Inhalt des Wortbestandteils ›Ort‹ aufzuklären, weil damit hier nicht entsprechend gängiger Deutung eine bestimmte Lokalität gemeint ist. Das Konzept der Erinnerungsorte ist von dem französischen Historiker, Publizisten und Verleger Pierre Nora in Zusammenarbeit mit vielen Fachkollegen entwickelt und entfaltet worden in einem zwischen 1984 und 1992 erschienenen dreiteiligen, aus insgesamt sieben Bänden bestehenden Werk, in dem unter den Titeln »La République«, »La Nation« und »Les Frances« insgesamt über 130 Beiträge französische »lieux de mémoire« – was ins Deutsche mit Erinnerungsorte übertragen wurde – beschreiben.1 Nora knüpfte an Überlegungen des französischen Soziologen Maurice Halbwachs aus den 1920er Jahren an, der als erster methodisch bedacht das Phänomen der kollektiven Erinnerung oder des kollektiven Gedächtnisses erhellt hatte.2 Zwar besitzt ein jeder ein eigenes, aus seinen persönlichen Lebensumständen gespeistes Gedächtnis, aber er bleibt mit ihm nicht allein, sondern dieses verbindet sich im gegenseitigen Gedankenaustausch mit den Erinnerungen anderer in demselben Milieu, in dem er lebt. Aus dem Zusammenspiel des individuellen Gedächtnisses des Einzelnen und der gemeinsamen, kollektiven Erinnerung der Vielen erwachsen historische Wahrnehmungsmuster und Deutungen, die von dem übereinstimmenden Bedürfnis nach Sinnstiftung angetrieben sind. Es sind vorrangig Nationen, in denen kollektive Erinnerungen entstehen und gepflegt werden, wie man leicht erkennt, wenn man sich ihre Gedenkfeiern und Denkmäler, ihre Mythen und Rituale vergegenwärtigt, wenn man an ihre Berufung auf die großen Persönlichkeiten, die bedeutenden Ereignisse oder die leuchtenden Werke ihrer Vergangenheit denkt.

Nora zog aus der allgemeinen Theorie von Halbwachs die Schlussfolgerung, dass es gelte, die kollektiven Erinnerungen menschlicher Gruppen ernst zu nehmen und sie in ihren konkreten Gehalten zu ergründen. Er fragte gezielt danach, wie sich die Vergangenheitsentwürfe der Völker (und die damit verknüpften Zukunftsentwürfe) entwickelten und im Laufe der Zeit veränderten, und er suchte eine Antwort in der Weise zu finden, dass er in seinen genannten Bänden Bruchstücke des französischen nationalen Gedächtnisses zusammentrug und in Form von Essays bearbeiten ließ. Ihn leitete die Analyse derjenigen »Orte – in allen Bedeutungen des Wortes – […], in denen sich das Gedächtnis der Nation Frankreich in besonderem Maße kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat«.3 Unter diese allgemeine Begriffsbestimmung fallen sehr verschiedenartige ›Orte‹: Gedenkstätten wie die Gräber der französischen Könige in St. Denis, Symbole, Embleme und Kunstwerke wie die Trikolore oder die Marseillaise, Gebäude wie die Kathedrale Notre-Dame oder der Eiffelturm, historische Texte wie die Erklärung der Menschenrechte oder der Code Napoléon, die scharfen Trennlinien innerhalb Frankreichs, etwa zwischen Katholiken und Hugenotten, zwischen Nord und Süd, zwischen der Rechten und der Linken, ebenso wie die tiefen Gemeinsamkeiten wie etwa die Sprache, überragende Persönlichkeiten wie Charlemagne (Karl der Große), die heilige Johanna, der Sonnenkönig. Nora bewegen, wenn er die »lieux de mémoire« der bevorzugten Aufmerksamkeit der Historiker empfiehlt, nicht die historischen Ereignisse oder Aktionen an sich, nicht die Vergangenheit, wie sie (nach Überzeugung der kritischen Historiker) aus dem Studium der überlieferten Quellen und deren Interpretation möglichst ›wahrheitsgetreu‹ zu rekonstruieren ist, sondern die in den Zeitläufen wechselnden Konstruktionen vergangener Geschehnisse und die ihnen in aufeinanderfolgenden Gegenwarten zugeschriebenen, aufkommenden und wieder verschwindenden Bedeutungen. Anders ausgedrückt: Nora faszinieren die Art und Weise, wie Traditionen geschaffen, weitergegeben, gestärkt oder geschwächt werden. Die Geschichte der Erinnerung an die heilige Johanna4 verdeutlicht sein Anliegen: Jahrhundertelang war die Frau, die 1429/31 für Frankreich die entscheidende Wende in seinem Hundertjährigen Krieg gegen England heraufbeschworen hatte, nahezu vergessen, bis sie am Anfang des 19. Jahrhunderts im Gefolge der Französischen Revolution und ihrer politischen Lagerbildungen im gegensätzlichem Sinne ›wiederentdeckt‹ wurde: von der königs- und kirchentreuen Rechten als gottgesandte Retterin Frankreichs und des französischen Königtums, von der republikanischen, laizistischen Linken als von König und Kirche verratenes Kind des Volkes. Die symbolische Aufladung ihrer Person unterlag somit stärksten Wandlungen, aber sie blieb trotzdem einer der Kristallisationskerne des französischen kollektiven Gedächtnisses. Solche symbolisch überhöhten historischen ›Orte‹ zu identifizieren und ihre wechselnden Formungen zu schildern, ist die neue Herausforderung an die Geschichtsschreibung.

Noras Bände sind, wie er selbst bekannt hat und wie seine Kritiker hervorgehoben haben, ein genuines Werk des französischen Geistes. Er fordert die französischen Historiker dazu auf, zur Betrachtung des Nationalen zurückzukehren und die Erinnerung im nationalen Rahmen zu pflegen, »weil in einem Land, dessen unvergleichliche Kontinuität das Gewicht einer langen Zeitspanne spüren läßt, die Legitimation jedes Geschichtsbruchs angesichts dieser Treue zur Vergangenheit allein durch deren Rekonstruktion und permanente Neuerschaffung möglich ist. Die Engländer haben die Tradition, wir aber haben die Erinnerung.«5 Aber dass Nora sich so ausschließlich auf französische Erinnerungsorte bezog, hat den Erfolg seiner Konzeption andernorts nicht beeinträchtigt. In mehreren europäischen Ländern ist sie aufgenommen und entsprechend ihren jeweiligen historisch-politischen Traditionen abgewandelt worden.

Besonderen Anklang hat sie in Deutschland gefunden, hier wirkten die von den in Berlin lehrenden Historikern Etienne François und Hagen Schulze 2001 in drei Bänden herausbrachten »Deutschen Erinnerungsorte« als Vorbild.6 Die beiden Herausgeber beziehen sich ausdrücklich auf den einleitend besonders gewürdigten Nora und seine Leistung und führen zugleich seinen Ansatz für deutsche Verhältnisse weiter, indem sie den Leitbegriff Erinnerungsort unter Aufnahme der Beobachtungen Jan Assmanns zum kulturellen Gedächtnis7 zu schärfen suchen. Sie heben hervor, dass der Erinnerungsort als Metapher zu verstehen ist, dass Erinnerungsorte ebenso materieller wie immaterieller Natur sein können, dass darunter etwa reale wie mythische Gestalten und Ereignisse, Gebäude und Denkmäler, Institutionen und Begriffe, Bücher und Kunstwerke zu fassen sind. Für die Einstufung als Erinnerungsort ist ausschlaggebend, dass ihm eine symbolische Funktion zugesprochen wird, dass er wegen seiner ihm beigegebenen Bedeutung und Sinn auf Anklang in einer großen Gemeinschaft stößt. »Es handelt sich um langlebige, Generationen überdauernden Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die durch einen Überschuß an symbolischer und emotionaler Dimension gekennzeichnet, in gesellschaftliche, kulturelle und politischen Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise seiner Wahrnehmung, Aneignung und Anwendung und Übertragung verändert.«8

Von Nora heben sich François und Schulze dadurch ab, dass sie nicht wie dieser einen in sich geschlossenen (französischen) Gedächtnisraum beschreiben, sondern Deutschland und die deutsche Erinnerungskultur zu den Nachbarn und nach Europa öffnen wollen, indem sie bewusst geteilte Erinnerungsorte, also solche, die für Deutschland wie für andere Nationen mit unterschiedlichen Sichten gleichermaßen bedeutsam sind – man denke für Deutschland und Frankreich etwa an Karl den Großen oder Charlemagne oder für Deutschland und die Sowjetunion/Russland an Stalingrad –, einbeziehen. François und Schulze berücksichtigen überhaupt den Blick von außen, ergänzend zu dem Blick von innen. Zwar haben sie ebenso wie Nora den nationalen Rahmen gewählt, betonen aber ausdrücklich dessen Begrenztheit, denn neben den nationalen Erinnerungen stehen etwa lokale, regionale, generationsspezifische und soziale Erinnerungen, wie denn überhaupt jede soziale Gemeinschaft ihre kollektiven Erinnerungen schafft und pflegt. Die Identität der Deutschen, die sich in den deutschen Erinnerungsorten widerspiegelt, stellt nur einen Teilaspekt dar, neben ihr stehen andere Identitäten, unter denen die der deutschen Länder herausragen, weil der Gang der deutschen Geschichte seit dem hohen Mittelalter bekanntlich im Gegensatz zu Frankreich keine übermächtige Zentralgewalt hervorgebracht hat, sondern den Landesherrschaften, Territorien und Ländern großen, spürbaren Anteil am Reich und an dessen Entwicklung hat zukommen lassen. Ihre Eigenständigkeit ist etwa daran greifbar, dass sich in ihnen eigene Landeshistoriographien ausgebildet haben, dass eine Geschichtsschreibung das jeweilige Land in den Mittelpunkt rückte, dessen vergangene Entwicklung beschrieb und so die Grundlage für eine eigene Erinnerungskultur schuf.

Dass die Brandenburgische Historische Kommission e.V. brandenburgische Erinnerungsorte zum Thema eines Sammelwerkes machen sollte, zu dem sich anlässlich ihres 25-jährigen Jubiläums ihre Mitglieder ebenso wie ihre Freunde in gemeinsamer Anstrengung verbinden würden, war eine Anregung, die im Vorstand der Kommission ebenso wie unter den angesprochenen Interessenten sogleich auf breite Zustimmung stieß. Denn wer über Erinnerungsorte der mehr als 1.000-jährigen brandenburgischen Geschichte nachdenkt, ist gezwungen, sich einmal von einem ungewohnten Blickpunkt aus zu vergegenwärtigen, was denn überhaupt den Gegenstand der brandenburgischen Landesgeschichtsforschung ausmacht, was in ihr Aufgabengebiet fällt. Welche Personen, Orte, Ereignisse, Zustände, Begriffe, Sachverhalte, Denkmäler aus jüngerer oder älterer Vergangenheit haben zurückliegende wie derzeitige Generationen und breite Bevölkerungskreise jenseits der Wissenschaft in ihrer Vorstellungswelt so bewusst bewahrt, dass sie sogleich in den Sinn kommen, wenn nach besonderen Merkmalen oder Eigenarten Brandenburgs oder der Brandenburger gefragt wird? Dem einen mag die ›märkische Kiefer‹ einfallen, dem anderen die ›Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches‹, oder man denkt an eine außergewöhnliche Landschaft wie das ›Oderbruch‹ oder die ›Langen Kerls‹ des ›Soldatenkönigs‹. Welche Vergangenheit(en) tauchen vorrangig in der Rückbesinnung der Menschen auf, wenn sie aufgefordert sind, die die Geschichte Brandenburgs prägenden Elemente zu benennen? Welcher historische Vorgang ist über lange Zeiträume hinweg in den Erzählungen der Bevölkerung oder wenigstens einzelner Bevölkerungskreise gegenwärtig geblieben, weil ihm für den Fortgang der brandenburgischen Geschichte besondere, außergewöhnliche Bedeutung zugeschrieben wurde, weil sich in ihm ›symbolisch‹ deren auszeichnende Eigenarten verdichteten?

Der zweigeteilte Titel des Buches weist darauf hin, dass ein Unterschied zwischen ›brandenburgischen Erinnerungsorten‹ und ›Erinnerungsorten in Brandenburg‹ besteht. Die Masse der Beiträge ist dem ersten Typus zuzuordnen, sie behandeln Erinnerungsorte, die eindeutig ein Teil der brandenburgischen Landesgeschichte sind und ihren Fortgang bestimmt haben. Immerhin ist Brandenburg nach nachwirkenden Vorläufern aus dem 10. Jahrhundert seit dem 12. Jahrhundert innerhalb Deutschlands nahezu ununterbrochen, wenn auch in wechselnden Verfassungsformen und wechselnden Grenzen, als Mark Brandenburg, als Provinz Brandenburg, als Land Brandenburg, eine eigenständige politische Einheit mit einem eigenen historisch-politischen Selbstbewusstsein gewesen, die durch die Tätigkeiten und Leistungen seiner Herrscher und seiner Bewohner merkliche, mit Brandenburg gedanklich verknüpfte Spuren hinterlassen hat. Überschriften wie das ›Baumblütenfest Werder‹, die ›Sängerstadt Finsterwalde‹, die ›Planstadt Eisenhüttenstadt‹ lenken die Aufmerksamkeit auf Orte in Brandenburg und auf Anstrengungen und Ergebnisse, die an ihnen unter bestimmten historischen Umständen erreicht und wegen ihrer eindrucksvollen Ausstrahlungskraft in den Rang eines brandenburgischen Markenzeichens erhoben worden sind. Andere Stichworte lassen sich hingegen nicht so eindeutig und ausschließlich Brandenburg zuweisen, wenn man etwa an solche denkt, die wegen seiner neuzeitlichen Entwicklung eher die Assoziation an Preußen hervorrufen. Der ›Soldatenkönig‹ Friedrich Wilhelm I. lebt als König von Preußen und nicht als Markgraf und Kurfürsten von Brandenburg fort, und seine politische Arbeit galt dem gesamten Königreich Preußen und nicht nur der Mark Brandenburg. Allerdings wirkte er besonders nachhaltig in der brandenburgischen Zentralprovinz seines werdenden Gesamtstaates und drückte ihr etwa mit einem Bau wie der Potsdamer ›Garnisonkirche‹ seinen Stempel auf. Diese Beobachtung verweist auf die Einsicht von François und Schulze, dass Erinnerungsorte nicht nur einer einzigen Erinnerungsgemeinschaft zugehören. Erst recht kann nicht mehr von einem brandenburgischen Erinnerungsort die Rede sein, wenn das angesprochene historische Ereignis sich zwar in Brandenburg abspielte, aber nicht unmittelbaren Bezug zu seinen Geschicken hatte und in seinem Kern in außer- oder überbrandenburgischen Zusammenhängen einzufügen ist. Die ›Potsdamer Konferenz‹ fand 1945 zwar in Brandenburg, im Hohenzollern-Schloss Cecilienhof, statt, aber die Verhandlungen der alliierten Siegermächte drehten sich um die deutsche und europäische Nachkriegsordnung und berührten Brandenburg allenfalls indirekt im Rahmen umfassender Neuregelungen. Die Bilder und Filme von der Konferenz, den Konferenzteilnehmern und dem Konferenzort sind um die Welt gegangen und sind so gewissermaßen der welt- oder globalgeschichtlichen Erinnerung einverleibt worden, aber vor Ort in Brandenburg sind, abhängig von den herrschenden politisch-gesellschaftlichen Systemen und ihren jeweiligen Geschichtsauffassungen, Gedächtnisstätten von unterschiedlicher Ausprägung und Deutung eingerichtet worden, die allein schon als solche Aufmerksamkeit erwecken und bis heute Kontroversen auslösen. Das Thema unseres Buches wäre zu seinem Schaden unnötigerweise verkürzt, wenn auf solche Erinnerungsorte ›in Brandenburg‹ verzichtet würde.

Die Beiträge dieses Bandes sind chronologisch aneinandergereiht. Dabei dient als Bezugspunkt, an dem sich die Einordnung orientiert, der Zeitpunkt oder der Zeitraum des historischen Vorganges, an dem sich die Erinnerung entzündet hat. Vorangestellt sind wenige Artikel, deren Gegenstände wie die ›märkischen Dialekte‹ oder das ›sorbische/wendische Brandenburg‹ nur epochenübergreifend betrachtet werden können. Wenn so der Leser in seiner Lektüre voranschreitet von den ältesten mittelalterlichen Erinnerungsorten über die neuzeitlichen des 16. bis 20. Jahrhunderts und schließlich am unmittelbaren Rand der Gegenwart mit Geschehnissen des frühen 21. Jahrhunderts ankommt, vermag er zugleich zu erkennen, wie sich in der Abfolge der Jahrhunderte mit den herausragenden neuen Entwicklungen und ihren markanten Ergebnissen neue Erinnerungen oder neue Erinnerungsringe angeschlossen haben, welche Erinnerungsorte zugleich an Gewicht und Aufmerksamkeit gewonnen haben und welche im Bewusstsein und in der Wirkung zurückgetreten sind wegen des Vorranges jüngerer Vorgänge. Die Artikel zeigen in aller Deutlichkeit, dass die Erinnerungen an ein und dasselbe historische Objekt starken Wandlungen unterliegen, dass sie in ihrer Intensität und in ihrem Gehalt und ihrer Deutung erheblich schwanken. Der ›Schlacht von Großbeeren‹ wurde als einer der wichtigsten brandenburgischen Schlachtorte der Befreiungskriege gegen Napoleon mindestens ein Jahrhundert lang gedacht, weil sie sich in die Erzählung vom Wiederaufstieg Preußens gegen den französischen Kaiser einfügte. Ein weiteres Jahrhundert später haben sich die überkommenen Erinnerungsrituale im Volksfest verflüchtigt, und zugleich steht die ›Feier‹ eines Kriegsgeschehens in der pazifistischen Kritik. Am Artikel ›Rettet Horno!‹ ist zu sehen, wie aus der noch nicht verheilten Narbe einer scharfen politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung der jüngsten Vergangenheit eine Erinnerung zu erwachsen im Begriff ist, deren Dauerhaftigkeit und Intensität abzuwarten bleibt.

Wenn sich das geschichtswissenschaftliche Konzept der Erinnerungsorte der kollektiven Erinnerung sozialer Gemeinschaften annimmt und diese in ihrer Entstehung und in ihrem Wandel zu erhellen trachtet, übersehen seine Vertreter nicht, dass diese Gemeinschaften ihr Bild der Vergangenheit auf andere Weise und mit anderen Erwartungen gestalten als die professionelle Historikerzunft. Diese hat seit dem 19. Jahrhundert ein methodisches Instrumentarium entwickelt und ständig verfeinert, mit dessen Einsatz die Geschichte möglichst objektiv erforscht und erkannt werden soll, »wie es eigentlich gewesen ist«, wie es Leopold von Ranke, einer der Begründer der modernen Geschichtswissenschaft, einmal in einer klassisch gewordenen Formulierung ausgedrückt hat.9 Es überrascht keineswegs, dass die kollektive Erinnerung von Nationen, Staaten und Regionen in ihren Erzählungen von den Darstellungen der Fachwissenschaftler erheblich abweichen, unter Umständen ihr sogar diametral widersprechen. Die in der brandenburg-preußischen Geschichte vielgerühmte ›Brandenburger Toleranz‹ hat ihre historische Herleitung im sogenannten ›Potsdamer Toleranzedikt‹ des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von 1685 – irrtümlicherweise, wie der Fachhistoriker anmerkt, weil hier nicht die vermeintlich propagierte Toleranz, sondern ökonomische Aspekte und die Aufnahme von reformierten Glaubensverwandten des Großen Kurfürsten im Zentrum standen und eben nicht Lutheraner oder gar Katholiken.

Aber die Untersuchung der Erinnerungsorte kann niemals darauf hinauslaufen, das kollektive Gedächtnis aller seiner ihm aus Sicht der kritischen Historie unterlaufenen Fehler zu überführen, es so ins Abseits zu drängen oder gar regelrecht zu dämonisieren. Es kann hier nur Aufgabe der Geschichtswissenschaft sein, ohne erhobenen, belehrenden Zeigefinger zu erläutern und zu beschreiben, wie Erinnerungsorte aufkommen, aufblühen und wieder vergehen, wie Gesellschaften und gesellschaftliche Gruppen sich ihr Bild von der Vergangenheit formen und immer wieder gemäß den Belangen und Erwartungen ihrer jeweiligen Gegenwart umformen und neugestalten. Die kollektive Erinnerung der Brandenburger über und in Brandenburg ist der Gegenstand und zugleich das Ziel der Erkenntnis, nicht aber deren vollständige Destruktion.

Das vorliegende Werk beansprucht nicht, eine verbindliche Liste brandenburgischer Erinnerungsorte und Erinnerungsorte in Brandenburg aufzustellen und damit die hier aufgenommenen gewissermaßen zu kanonisieren. In den Vorüberlegungen erwies sich rasch, dass manche andere als die hier berücksichtigten Orte die Behandlung verdient hätten, wie schon Nora sowie François und Schulze für ihre französischen und deutschen Erinnerungsorte betont haben, sie leicht um die doppelte oder dreifache Anzahl vermehren zu können. In unserem Fall erwies sich die Suche der Herausgeber nach sachlich überzeugenden Erinnerungsorten und zugleich ihre Suche nach kompetenten Autoren als so erfolgreich, dass schließlich eine Zweiteilung des Gesamtwerkes beschlossen wurde. Dem jetzigen Band wird mithin im Laufe des nächsten Jahres ein ungefähr gleich starker Band mit einer ähnlichen Anzahl von Artikeln folgen – der eine oder andere ist in den zuvor genannten Beispielen schon angeführt. Im zweiten Band werden die Leserinnen und Leser ebenso wie hier im ersten mit einem erneuten Durchgang brandenburgische Erinnerungsorte vom Mittelalter bis zur Gegenwart aufsuchen, so dass beide Teile infolge einer fehlenden strengen inhaltlichen Abgrenzung voneinander zusammen als Einheit betrachtet werden müssen. Die Herausgeber wünschen sich, dass am Ende ihre Gesamtschau eine geneigte Leserschaft finden wird, nicht nur und nicht in erster Linie unter ihren Fachkolleginnen und -kollegen, sondern in den geschichtsinteressierten Kreisen der Bevölkerung, damit sie alle näher und genauer unterrichtet werden über die weitverbreiteten historischen Erinnerungen an das Land Brandenburg, die sie in den öffentlichen Debatten ihrer kleineren oder größeren Lebensumwelt in sich aufgenommen haben. Gerade dieses Publikum erwartet kein gelehrtes wissenschaftliches Werk zur fachlichen Selbstverständigung, sondern Aufklärung in verständlicher, nachvollziehbarer Weise. Die nachfolgenden Beiträge enthalten zwar Nachweise über die von ihnen benutzten Quellen und Literatur (in sehr begrenztem Umfange), aber sie entbehren aller methodischer Erwägungen, die in einer fachinternen Debatte angebracht wären, und bemühen sich stattdessen, knapp und präzise, zuweilen auch im essayistischen Stil ihre jeweiligen Erinnerungsorte zu beleuchten und sie so gefällig vor Augen zu führen, dass der Leser nach der Lektüre sich klar gemacht hat, warum sie ihren Weg in das kollektive Gedächtnis Brandenburgs gefunden haben.

An dieser Stelle möchten die Herausgeber zunächst den Autorinnen und Autoren der Beiträge für deren Engagement danken. Die technische Realisierung der beiden Bände erfolgte durch den be.bra wissenschaft verlag, mit dem die Brandenburgische Historische Kommission e.V. schon in der Vergangenheit in zahlreichen Buchprojekten fruchtbar zusammengearbeitet hat. Stellvertretend bedanken wir uns herzlich bei Herrn Dr. Robert Zagolla, der stets hilfsbereit dieses Buchprojekt begleitet hat. Für die sorgfältige Korrektur der Beiträge sorgten die Wissenschaftlichen Hilfskräfte Marco Barchfeld B.A. und Veronika von Lonski M.A. (beide Universität Potsdam), denen hier ebenfalls gedankt wird, zudem Frau Ingrid Kirschey-Feix, die vom Verlag als Lektorin bestellt worden ist. Für die mitunter mühsame Suche nach den Bildern und Bildrechten schulden die Herausgeber Herrn Marco Kollenberg M.A. (Universität Potsdam) herzlichen Dank.

Potsdam, im Oktober 2021

Anmerkungen

1 Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, 3 Bde., Paris 1984/92.

2 Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1925.

3 Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1998, S. 7.

4 Michel Winock, Jeanne d’Arc, in: Pierre Nora (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005, S. 365 – 410.

5 PIerre Nora, Wie lässt sich heute eine Geschichte Frankreichs schreiben?, in: Ders. (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005, S. 15 –27, hier S. 22.

6 Etienne François/Hagen Schulze (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001.

7 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.

8 Etienne François/Hagen Schulze, Einleitung, in: Dies. (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1 (wie Anm. 6), S. 9–24, hier S. 18.

9 Aus der Vorrede des Werkes von Leopold von Ranke, Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535, Bd. 1, Leipzig/Berlin 1824, S. V.



Der Beitrag erschien in:

Asche, Matthias / Czech, Vinzenz / Göse, Frank / Neitmann, Klaus (Hrsg.): Brandenburgische Erinnerungsorte - Erinnerungsorte in Brandenburg. Band 1 (= Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V., Band 24). Berlin 2021, S. 7-13.

 

Mario Huth

»Wo so wenig ist, ist auch eine Kiefer etwas.« 1
Theodor Fontane (1819–1898)

Der Kiefernbaum und die Mark Brandenburg – beide Begrifflichkeiten scheinen in der Imagination eines Lesers unmittelbar eine untrennbare Einheit hervorzurufen. Und tatsächlich stellt sich eine solche feste Liaison vor dem gegebenen historischen Rahmen so dar. Diese Pionierbaumart kann für die Periode seit dem Ende der letzten Kaltzeit durch Pollenanalyse in vielen Teilen des Bundeslandes als natürliche Vegetationsdominante nachgewiesen werden.2 Trotz der vielen zwischenzeitlichen Klimaschwankungen blieb sie seit der Wiederbewaldung (Präboreal) stets eine Konstante im hiesigen Waldbild, mal mehr mal weniger präsent, doch immer in wahrnehmbarer Dichte vorhanden.3 Ihre absolute Führungsposition bis zum heutigen Tag hat sie auf märkischen Sanden jedoch vor allem durch stete anthropogene Förderung erhalten.4

Die Kiefer wird damit quasi zu einem omnipräsenten Erinnerungsort für Brandenburg, da sie sich aufgrund ihrer Dominanz in der Landschaft kaum übersehen ließ und lässt. Folglich ist es nicht verwunderlich, dass man sie auch schon in den älteren Sprachdenkmälern unserer Region, speziell in den Ortsbezeichnungen Zootzen und Zossen, des Öfteren nachweisen kann. Dieser alte, in Brandenburg durchaus häufig anzutreffende Flurname5 ist etymologisch auf die altpolabische Grundform ›Sosna‹ beziehungsweise ›Sosne‹ zurückzuführen. Im heutigen Sprachgebrauch lässt sich dies sinngemäß mit dem Artnamen ›Kiefer‹ oder auch mit der waldgesellschaftlichen Standortcharakteristik ›Ort, wo Kiefern vorkommen‹ gleichsetzen.6 Die Kiefer wurde hier schon damals in einem denkwürdigen Maße als umweltprägend erachtet und floss somit in den ortsbeschreibenden Namen ein.

Neben ihrem bloßen Vorhandensein dürften aber auch und vor allem die zahlreichen Nutzfunktionen ihres Holzes eine ausschlaggebende Motivation dafür gewesen sein, sie fest im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Doch stimmt hier eigentlich das tradierte und auch heute noch zuweilen bemühte Bild des »Brotbaums der Mark Brandenburg« überhaupt?7 Die Wortgruppe suggeriert zunächst ein durchweg positives Bild eines Baumes, der in der Lage ist, gleich einem Laib Brot, den kleinen (märkischen) Mann durch seine Existenz zu ernähren. Beim Studium entsprechender Quellen scheint sich dieser Analogismus zu bestätigen. Schon im Spätmittelalter wurde die Kiefer – wenngleich indirekt – aktenkundig. Im bekannten »Landbuch der Mark Brandenburg« Kaiser Karls IV. aus dem Jahr 1375 werden für die Gegend um Potsdam, Bernau, Trebbin, Werbellin, Liebenwalde, Rathenow oder auch Biesenthal Einnahmen aus der Waldbienenzucht oder Zeidlerei erwähnt.8 Da für diese Form der forstlichen Nebennutzung vordergründig Kiefern höherer Altersklasse genutzt wurden,9 kann an den genannten Orten von einem Vorkommen dieser Baumart ausgegangen werden. Eine ähnliche Kombination zwischen Waldgewerbe, also dem täglichen handwerklichen Broterwerb im Wald, und dem vorhandenen Bestandsbild findet sich auch im Falle der Teerschwelerei. Es ist wohl nicht von der Hand zu weisen, dass sich Häufungen von Teeröfen oder Pechhütten gerade dort ausmachen lassen, wo in historischer Zeit die Kiefer dominierte.10 Einrichtungen dieser Art gab es an unzähligen Orten.11 Die Teerschweler versuchten, durch künstliches Erhitzen gestapelten Holzes das darin enthaltene Kienöl in einem Ofenraum quasi trocken zu destillieren. Der königlich-preußische Oberforstmeister Friedrich August Wilhelm Friedrich Leopold von Krosigk (1707–1797) berichtet darüber in seinem »Universal-Forst-Lexikon« und schildert darüber hinaus auch den vielseitigen wirtschaftlichen Wert, welchen die Kiefer seit alters her gerade für die ärmeren Bevölkerungsteile im brandenburg-preußischen Gebiet besaß. Aus Kiefernholz, so von Krosigk, könne »guter Theer und Pech gemacht werden […], welches zum Schiff-Bau, Pichen des Bier-Gefäßes, auch Schuh-Pech und Wagen-Schmier zubereitet wird. […]. Der Terpentin und Kien-Oel wird ebenfals aus dieses Baumes Holtze verfertiget. Die Tangeln und Nadeln werden von den armen Leuten, so wenig Stroh haben, unter zu streuen, um Mist davon zu machen, auf vorher geschehene Anfrage, mit weiten Rechen fleißig gesammlet.«12

Stalleinstreu aus ihren Nadeln lieferte die märkische Kiefer also ebenso wie den Kienspan als Leuchtmittel, der – wie Heller mit Sicherheit ohne Übertreibung festhielt – sogar noch bis 1946 in mancher abgelegenen Kate des ländlichen märkischen Raums zu finden war.13 Zu großen Teilen dürfte die Föhre auch das Feuerholz für die etwa 75 Glashütten bereitgestellt haben, die seit dem Ende des 16. Jahrhunderts im brandenburgischen Gebiet ihre Produktion aufnahmen und im 18. Jahrhundert ihre Blütezeit hatten.14 Hierbei handelte es sich oftmals um abgelegene Waldglashütten, die Gebrauchsglas herstellten und dafür zwischen 3.000 und 15.000 Festmeter Holz pro Jahr verbrauchten.15 Und selbst die wenigen Beispiele von Eisenverhüttung in der Mark, wie etwa bei Zehdenick oder Peitz, wären ohne Kiefernholz als Brennmaterial mit Sicherheit nicht denkbar gewesen.16

Wie ein etwa 450 Jahre alter Balken aus dem Kloster Altfriedland eindrücklich beweist, war märkisches Kiefernholz seit frühester Zeit auch im Bauwesen gefragt.17 Wenngleich sich der Bedarf daran im Gegensatz zum festeren und beständigeren Eichenholz relativ gering ausnahm und man es lieber verfeuerte, wurde es doch auch hier einer vielfältigen Nutzung zugeführt. Das königliche Amt Badingen benötigte beispielweise 1762 mehrere Stücke kleines oder starkes Kiehnen Bau-Holz.18 Der prognostizierte Verbrauch an Kiehnen Brenn-Holz war hier zusätzlich mit 418 Klaftern angegeben.19

Gepaart mit dieser Form der Holzentnahme, übermäßiger Waldweide und Schädlingskalamitäten führten die bereits erwähnten und oftmals als ›Waldfresser‹ bezeichneten Waldgewerbe zu einer gewissen Entwaldung, die durch Erosion und Wind vegetationslose Flächen – häufig »Sandschollen« genannt – zur Folge hatten.20 Um 1830 eindrucksvoll in Carl Blechens (1798–1840) Aquarell »Märkische Landschaft mit Sand schaufelnden Frauen« festgehalten (Abb. 1),21 war auf solchen devastierten Standorten wieder die Kiefer gefragt. »[S]o ist Mein Wille«, ordnete König Friedrich II. von Preußen etwas ungehalten in einem Brief vom 7. September 1775 an seinen Minister Friedrich Wilhelm von Derschau (1723–1779) an, »dass alle dergleichen Sandschollen mit Kiefern besäet werden sollen, damit der Boden dadurch fester gemacht wird.«22 Der mit dieser Ordre aufgebaute Druck des Monarchen wurde dann nicht selten auf die Revierbediensteten übertragen. Ein Elias Mollenhauer sollte 1775 laut seines Annehmungsbriefes als königlicher Unterförster zu Badingen »die Zubereitung der jährlich anzulegenden Eichen und Kiefern Kämpe oder Schonungen sich äußerst angelegen sein laßen«,23 wie dies auch noch 1787 sein nachbarlicher Kollege Jacob Weber für das Revier um Zabelsdorf zu tun hatte.24 Das dienstliche Einschwören auf die Bestandspflege war offenkundig auch nötig, denn immerhin lagen in der umliegenden Lüdersdorfer Forst ganze 3.895 Morgen in Schonung, 391 Morgen davon ausschließlich mit der Kiefer bestockt.25 Zeitgenössische Quellen, wie etwa die »Forst-Beschreibung« des Johann Peter Morgenländer (1736 –1811) aus dem Jahre 1780, heben dann auch die erreichte hohe Dichte dieses Nadelbaums hervor – gerade auch für das Lüdersdorfer Forstrevier und hier speziell für die bereits genannten Wälder im Amtsbezirk Badingen.26 Obwohl man sich schon im 16. Jahrhundert auf brandenburgischem Boden mit Kiefernsaaten versuchte,27 bediente man sich doch erst bei den großen Aufforstungen des 18. Jahrhunderts, und vor allem auch zwischen 1850 und 1910,28 dann flächendeckend der Föhre, was schließlich noch einmal mehr die Verhältnisse innerhalb der Baumartenverteilung in märkischen Forsten zu deren Gunsten und mit großem Erfolg verschob. Nicht zuletzt auch der brandenburgische Forstwissenschaftler und Forstbedienstete Hartig schwärmte ja in seinem Conversations-Lexikon aus dem Jahr 1836, dass die Kiefer »ein unschätzbares Naturgeschenk für die sandigen Länder ist.«29 Und es nimmt daher nicht Wunder, dass schließlich in von Hagens forststatistischem Werk von 1867 der Regierungsbezirk Potsdam innerhalb Preußens mit 653.497 Morgen auf dem ersten Platz hinsichtlich reiner Kiefernwaldfläche rangierte, in nahem Abstand dazu auf Platz drei der Regierungsbezirk Frankfurt mit 591.499 Morgen. Während Potsdam 1927 bei der Kiefer mit 6.458,5 Quadratkilometern ähnliche Verhältnisse aufwies, konnte der Regierungsbezirk Frankfurt sogar noch auf 7.216 Quadratkilometer Kiefernwaldfläche zulegen. Von den 13.674,5 Quadratkilometern brandenburgischen Waldes waren zu dieser Zeit 93 Prozent mit Kiefern bestockt und nur 1,9 Prozent mit Buchen, womit die preußische Provinz in ihrer damaligen Ausdehnung (inklusive Neumark) offenbar die höchsten Werte in ganz Deutschland aufwies.30

Gerade ihre Allgegenwärtigkeit und die Eigenschaft, für die breite Masse der Bevölkerung tatsächlich einen Nutzaspekt zu besitzen, hat wohl ein Erhebliches dazu beigetragen, die romantische Vorstellung eines »Brotbaumes« zu entwickeln – und zwar in einer Zeit, in der technischer Fortschritt viele der alten Waldberufe und Nutzungsformen bereits obsolet erscheinen ließen. Die Feststellung, dass einst »[a]us den dünnen und zähen Kiefernwurzeln […] Feuereimer, flache Brotkörbe, kleinere und größere Gemäße, Körbe und dergleichen gefertigt«31 wurden, gehörte nun in ethnologische Abhandlungen. Die früher hart verteidigten Nutzungsrechte »um ein Fuder Nadelstreu«32 waren nurmehr im heimischen Sagenschatz zu finden. Man ging andächtig durch den märkischen Kiefernwald wie durch ein hallenartiges Museum, das den Wanderer mit kulturgeschichtlichem, naturkundlichem und ästhetischem Reiz für sich einnahm. Dieses Phänomen äußert sich bis heute nicht nur in zum Teil recht schwülstigen Wander- und Reisebeschreibungen, in denen die Kiefer nicht fehlen darf,33 sondern auch schon in heimatkundlichen Zeitschriften des frühen 20. Jahrhunderts, in denen regelmäßig Darstellungen des märkischen Kiefernwaldes, flankiert von markigen Bildern aus dem Alltag der letzten aktiven Köhler, kursierten.34 Die Kiefer war zu einem Erinnerungsort längst vergangener Kindertage mutiert, in denen die Vorfahren durch beschwerliche Arbeit gerade so ihr Auskommen hatten, dabei nur unterstützt von den Gaben des märkischen »Brotbaumes«, der als Pionierbaumart auch auf kargen Böden zügig fortkam. Da man aus wirtschaftlichen Begehrlichkeiten die Kiefer aber nur selten über ihre Hiebsreife hinaus tolerierte, ist es für die Form der hiesigen Rezeption geradezu symptomatisch, dass wirklich nur sehr selten uralten Individualisten gehuldigt wird, die durchaus auch einen optischen Reiz besitzen (Abb. 2).35

In entsprechenden Publikationen fehlt die Kiefer zumeist,36 und das obwohl Beispiele genug vorhanden wären.37 Nein, es ist vorrangig die Kiefernheide oder der Reihenbestand, der Kiefernforst oder Kiefernwald mit seinem lichten hohen Kronendach, seinem aromatischwürzigen Duft, seinem Pilzreichtum, seinen Blaubeerhainen und seiner knisternden sommerlichen Trockenheit, der uns auch heute noch in unsere Erinnerungen treibt.

Mit diesem atmosphärischen Bild spielten und spielen Reisende, Künstler und Dichter des Öfteren, um entsprechende Assoziationen beim Betrachter oder Leser hervorzurufen. Selbst Willibald Alexis (1798–1871) wählte für seinen vaterländischen Roman über das sagenumwobene Beinkleid eines märkischen Landadelsgeschlechts den Einstieg über eine Beschreibung des seiner Meinung nach typisch brandenburgischen Waldbildes mit Kiefern.38 Eine Entsprechung der unabdingbaren Zusammengehörigkeit von Kiefernwald und Mark bildet sich dann auch in der Erinnerungsliteratur ab,39 die, mit selbstbewusster Apologetik gespickt, die eigene entworfene Landschaftskomposition der Mark rechtfertigen will. Wenn Arthur Rehbein (1867–1952) von der Schönheit der Mark schreibt, beginnt er zunächst mit dem Unverständnis für die Monotonie der »melancholischen Kiefern«.40 »[W]er sie schmäht«, so der Autor von »Märkische Wanderbilder«, »weiß offenbar nichts von dem Lichtwunder der preußischen Pinie. Er kennt das Föhrenglühen nicht. Hat es nicht erlebt, wie beim Scheiden des Tages alle Stämme zu roten Pophyrsäulen werden. Und ganz zuletzt, wenn auch die Stämme bereits im Schatten stehen, dann sprüht es noch in den Wipfeln wie im brennenden Busch, den Moses sah.«41 Der Fokus auf die Schlichtheit, verwechselt mit einer langen Tradition romantischer Verehrung der Urwüchsigkeit des deutschen Waldes42 – es handelt sich ja stets um Beschreibungen menschenerzeugter Forsten –, führt in ein paradiesisch anmutendes Vorstellungsgebäude, das aus der Retrospektive selbst für Albert Einstein (1879–1955) eingedenk seines Caputher Paradieses »nur aus Holz, sandigem Boden und duftenden Kiefern«43 bestand. Und auch Dankwart Graf von Arnim (1919–1981) vergegenwärtigte sich in der Erinnerung seine einstige uckermärkische Heimat mit den Worten: »Der hohe Kiefernwald war im Sommer unter der starken Sonneneinstrahlung ein einziger Duft nach schönsten Harzen, alles andere überduftend – wenn es dies Wort geben sollte. Der Weg, immer nur einspurig und in tief eingefahrenen Sandgeleisen, führte durch Hochwald, an Schonungen vorbei, an Jungholz. Die Kiefer herrschte bei weitem vor […].«44 Die ansprechenden Gemälde von Rudolf Hellgrewe (1860–1935) und Walter Leistikow (1865–1908) scheinen das mit Worten Beschriebene eindrücklich zu illustrieren. Genannt sei hier nur Leistikows »Märkischer See bei Sonnenuntergang« aus dem Jahre 1895,45 auf dem kein anderes Florenelement als die Kiefer zu existieren scheint. Der damals typische ›Unterbau‹ aus Wacholder – in seiner Existenz immer ein Indiz für starken Lichteinfall im Bestand – betont den lockeren lichten Charakter des Föhrenwaldes in Ufernähe.

Einen ersten Höhepunkt erfährt die Identifikation des Märkers mit seiner Leitbaumart46 in den bekannten Zeilen seiner inoffiziellen Landeshymne »Märkische Heide«. Von Gustav Büchsenschütz (1902–1996), dem Sohn eines Berliner Gendarmen, am 10. Mai 1923 niedergeschrieben, bemüht der deutschtümelnde Text Bilder, die unverkennbar märkisch sein sollen, namentlich einen Adler, der hoch über Sumpf und Sand und dunkle Kiefernwälder aufsteigt.47 Das Lied besingt die Kiefer vor allen anderen Baumarten gleich in der ersten Strophe und bettet sie textlich in weitere Attribute der Region ein. Sie bekommt damit gleichsam den schalen Beigeschmack eines ›nationalen Baumes‹ und musste sich daher, einmal in diesen Status erhoben, in der Neuzeit erstmals auch kritische Meinungshaltungen gefallen lassen.48

Dennoch: Das positiv belegte Bild dieses Baumes als ein ›Ernährer‹ konnte zunächst auch noch in die Zeiten zunehmender technologischer und ökonomischer Ausrichtung in der Forstwissenschaft und Forstwirtschaft des 20. Jahrhunderts hinübergerettet werden. Als Katalysator für ihre Bedeutung sorgte in dieser Zeit letztendlich nicht nur die Nutzung ihres Holzes, sondern auch die Gewinnung ihres Harzes, das, als kriegswichtiges Produkt eingestuft,49 bereits ab dem Sommer 1915 unter Leitung von Max Kienitz (1849–1931) versuchsweise in der Oberförsterei Chorin gewonnen wurde.50 Der Aktivitätsschwerpunkt der Kiefernharzung setzte allerdings erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges ab 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone ein und wurde in der DDR bis Mai 1990 fortgeführt. Noch 1989 standen in den Bezirken Potsdam und Frankfurt (Oder) 3.145 Hektar beziehungsweise 3.588 Hektar Kiefernforst in Harzung (Abb. 3).51

Am Ende dieser ganzen Entwicklung keimt nun allerdings das Bestreben auf, den überkommenen Mythos des ›guten Baumes‹ zu demontieren. Es ist nicht uninteressant, dass dabei gerade die Verbindung von Kiefer mit ihrem ›Standort Land Brandenburg‹ polarisierte und nach wie vor polarisiert. In der Debatte um den Klimawandel und die dadurch als Folgeerscheinung befürchtete Versteppung märkischer Landstriche übernahm sie seit jeher eine tragende Rolle. Schon August Bier (1861–1949) weichte das durchgängig positive Bild mit seinen Experimenten in Sauen bei Beeskow ab 1912 auf. Dabei ließ er hier im Grunde mit hohem finanziellen Aufwand der Pionierbaumart Kiefer einen sorgfältig ausgesuchten, abwechslungsreichen und gepflegten Mischwald folgen.52 Deutlicher vertrat spätestens Anton Metternich ab 1947 eine ›Anti-Kieferkampagne‹. Er versuchte durch Publizistik dem Image des »Brotbaums« sein Bild von »Nadelholz-Stangenfabriken« entgegenzustellen, deren allgegenwärtige Präsenz auf »ein schädliches Übermaß gesteigert«53 worden sei. Der seit langem fest etablierten Einheit ›märkische Kiefer‹ tat dies jedoch zunächst keinen Abbruch, auch wenn Metternich im Gegenzug versuchte, seinerseits das romantische Bild der ›deutschen Eiche‹ zur Assoziation zu bringen. »In der Mark Brandenburg«, so konstatierte er, »die wie ganz Ostdeutschland heute unbestritten dem dürren Nadelwald gehört, rauschten noch vor ein paar hundert Jahren üppige Eichenwälder.«54 Die darauffolgenden Arbeiten Scamonis können wohl als Antwort auf diese resolute Kampfansage Metternichs gewertet werden, wenn in ihnen wiederum versucht wurde, das natürliche Vorkommen der Kiefer in den brandenburgischen Landen nachzuweisen.55

Die hitzigen Debatten um den Klimawandel, in denen derzeit auch regelrecht bilderstürmend gegen die Kiefer gewettert wird, sollten nicht den Blick darauf verstellen, dass die Baumart von vielen Seiten jüngst Ehrenbezeugungen erhielt. In der Umgebung von Lychen (Uckermark) kann man beispielweise »Auf Harzer Wegen« wandeln und nach Bäumen mit den typischen Fischgrätenmustern im Stamm Ausschau halten. Im Jahr 2007 rief der Landesverband Brandenburg der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald e.V. zu einem Fotowettbewerb unter der Maxime »Kiefernland Brandenburg« auf.56

Anmerkungen

1 Vgl. Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Spreeland, 3. Aufl., Frankfurt am Main/Berlin 1993, S. 26.

2 Vgl. Gerhard Hofmann/Ulf Pommer, Potentielle natürliche Vegetation von Brandenburg und Berlin mit Karte im Maßstab 1:200000, Potsdam 2005, S. 22 f.

3 Vgl. Susanne Jahns/Christa Herking, Zur holozänen und spätpleistozänen Vegetationsgeschichte westlich des unteren Oderlaufs, in: Eike Gringmuth-Dallmer/Lech Leciejewicz (Hgg.), Forschungen zu Mensch und Umwelt im Odergebiet in ur- und frühgeschichtlicher Zeit, Mainz 2002, S. 33 – 49, hier S. 34, 37, 40, 41 u. 45; vgl. auch Susanne Jahns/Ina Begemann/Dirk Sudhaus, Zur spät- und nacheiszeitlichen Geschichte des Waldes in der Niederlausitz, in: Neue Beiträge zur Wald- und Forstgeschichte 1 (2019), S. 60 –75, hier S. 69 u. 72. Vor allem auf dem Gebiet der Niederlausitz dominierte die Kiefer wohl aufgrund der dortigen sandigen Böden und der Niederschlagsarmut.

4 Vgl. ebd., S. 22–23; vgl. auch Horst Carl Glowalla, Zur Geschichte der Oberförsterei Zechlin und ihrer Tochteroberförsterei Zechlinerhütte, Karwe 2005, S. 14 –17.

5 Als Beispiele wären hier zu nennen: Friesacker, Briesener und Klessener Zootzen bei Friesack (HVL), das Waldgebiet Zootzen bei Friesack (HVL), das Dorf Zootzen östlich von Wittstock (OPR), die mittelalterliche Wüstung Zootzen nördlich von Rheinsberg (OPR) beim Zootzensee, das Dorf Zootzen südöstlich von Fürstenberg/Havel (OHV) etc. Vgl. zum Waldgebiet Zootzen zusammenfassend: Gerd Heinrich, Berlin und Brandenburg. Mit Neumark und Grenzmark Posen-Westpreußen, 3. Aufl., Stuttgart 1995, S. 407 f.

6 Vgl. Sophie Wauer, Brandenburgisches Namenbuch, Teil 9: Die Ortsnamen der Uckermark, Weimar 1996, S. 271 f., Nr. 853; vgl. auch Julius Bilek, Slawische Sprachdenkmäler im Spiegel Nordbrandenburger Seenamen, in: Märkische Heimat 4 (1959)/II, S. 94 –101, hier S. 97; Heinz-Dieter Krausch, Flurnamen als Quellen zur Forstgeschichte dargestellt am Beispiel Brandenburgs, in: ebd. 1 (1956)/V, S. 21–28, hier S. 23; Geert Dobbermann/Siegfried Fornacon, Bedeutungs- und Ortsregister zu dem Werk von Reinhold Trautmann: Die elb- und ostseeslawischen Ortsnamen. Teil I und II, Berlin 1984, in: Beiträge zur uckermärkischen Kirchengeschichte 1 (1975), S. 56 –75, hier S. 59, Nr. 125.

7 So schon bei Werner Sorg, Wüstungen in den brandenburgischen Kreisen Ruppin und Templin und deren Ursachen, Berlin 1936, S. 42.

8 Vgl. Johannes Schultze (Hg.), Das Landbuch der Mark Brandenburg von 1375, Berlin 1940, S. 36.

9 Vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [= GStA PK] II. HA, Abt. 33 Forstdepartement, Generalia, Tit. XXVIII, Nr. 1a, S. 442– 443; vgl. auch Richard B. Hilf, Der Wald, Potsdam 1938, S. 136 f.; außerdem Colerus, Johannes: Oeconomia ruralis et domestica, Darinn das Ampt aller trewer Hauß-Vaetter/Hauß-Muetter/bestaendiges und allgemeines Hauß-Buch/vom Hauß-Halten/Wein-, Acker-, Gaerten-, Blumen- und Feld-Baw/begriffen/Auch Wild- und Voegelfang/Weid-Werck/Fischereyen/Viehzucht/Holtzfaellungen/vnd sonsten von allem was zu Bestellung vnd Regierung eines wohlbestelten Mayerhoffs/Laenderey/gemeinen Feld- und Haußwesens nuetzlich vnd vonnoethen seyn moechte., Mainz 1645, S. 555 u. vor allem 561– 562: »[…] hier hat man die Bienen in den Wäldern in eitel fichtenen oder Kihnbäumen/[…]/Sie nemen fein gerade Kihnbäume darzu/die im Walde allein stehen […].«

10 Vgl. Alexis Scamoni, Teeröfen als Nachweis eines ursprünglichen Vorkommens der Kiefer, in: Archiv für Forstwesen 4 (1955), S. 170 –183.

11 Vgl. u. a. Günther Thinius, Rauch in den Wäldern und Pech in acht Tagen, in: Heimatkalender für die Region Herzberg 7 (1997), S. 32–34, hier S. 32; B. Willy Ulrich, Der Brandenburger Teerofen an der Buckau, in: Märkische Heimat 1 (1956)/V, S. 29–30.

12 GStA PK II. HA, Abt. 33 Forstdepartement, Generalia, Tit. XXVIII, Nr. 1a, S. 225 –226.

13 Gisela Heller, Märkischer Bilderbogen. Reporterin zwischen Havel und Oder, Pinnow 2019, S. 197.

14 Vgl. Gerrit Friese/Karin Friese, Glashütten in Brandenburg. Die Geschichte der Glashütten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert mit einem Katalog ihrer Marken und 16 Farbtafeln, Berlin 1992, S. 5.

15 Vgl. ebd., S. 5, 84 u. 85; vgl. auch Joachim Volz, Sterbender oder kultureller Wald? Waldnutzung in der Uckermark vor 200 Jahren und heute, Templin 1998, S. 12 f.; Matthias Roch, Landschaft und Gewerbe. Die Niederlausitzer Glashütten, in: Günter Bayerl/Dirk Maier (Hgg.), Die Niederlausitz vom 18. Jahrhundert bis heute: Eine gestörte Kulturlandschaft?, Münster/New York/München/Berlin 2002, S. 237–269, hier S. 242; Martin Rudolph, Uckermärkische Glashütten, in: Mitteilungen des Uckermärkischen Museums- und Geschichtsvereins zu Prenzlau 8 (1930)/III, S. 68–89, hier S. 70.

16 Vgl. Hermann Cramer, Beiträge zur Geschichte des Bergbaues in der Provinz Brandenburg. Achtes Heft, Die Kreise Angermünde, Prenzlau, Templin, Ruppin, Westprignitz und Ostprignitz, Halle 1885, S. 13 –24, hier S. 20; vgl. auch Konrad Teicher, Die Eisengewinnung in Brandenburg aus heimischen Lagerstätten, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte 28 (1977), S. 24 – 60, hier S. 36 –38.

17 Vgl. Albrecht Milnik, Am Waldessaume träumt die Föhre, Liebeserklärung an eine Verpönte, 2. Aufl., Remagen 2017, S. 75, Abb. 6.9.

18 Brandenburgisches Landeshauptarchiv [= BLHA] Rep. 2, Kurmärk. Kriegs- und Domänenkammer, F, 1441, unfoliiert. »Assignation« vom 7. November 1762.

19 Ebd.

20 Vgl. Albrecht Milnik, Sandschollen. Zerstörte Lebensräume. Ein Beitrag zur Umweltgeschichte Norddeutschlands, in: Beiträge zur Forstgeschichte 5 (2005), S. 3–14, hier S. 5.

21 Das Original befindet sich im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, SZ Blechen 700.

22 Rudolph Stadelmann, Preußens Könige in ihrer Thätigkeit für die Landescultur, Bd. 2, Leipzig 1882, S. 419 (Nr. 305).

23 BLHA Rep. 2, Kurmärk. Kriegs- und Domänenkammer, F.1429, fol. 22v.

24 Vgl. ebd., unfoliiert. Schreiben vom 8. Oktober 1787.

25 Vgl. GStA PK II. HA, Abt. 33, Forstdepartement, Generalia, Tit. V, Nr. 24, S. 124. Diese Daten stammen aus dem aussagekräftigen »General Tableau der Koeniglichen Forsten. Exclusive Schlesien. Pro 1784«.

26 Vgl. Johann Peter Morgenländer, Forst-Beschreibung von der Churmark angefertiget im Jahr 1780, Berlin 1780, S. 201–218. Das mit seinen zwölf handschriftlichen Bänden geradezu monumental wirkende Manuskript ist im Bestand der Stadt- und Hochschulbibliothek Eberswalde unter der Signatur M213 zu finden. Eine umfangreiche Auswertung dieser Quelle für eine märkische Region mit deutlichen Bezügen zur Kiefer bei Heinz-Dieter Krausch, Die Wälder des Teltow gegen Ende des 18. Jahrhunderts, in: Heimatkalender für den Kreis Zossen 15 (1972), S. 93–96.

27 Vgl. Milnik, Am Waldessaume (wie Anm. 17), S. 49.

28 Vgl. Hofmann/Pommer, Potentielle natürliche Vegetation (wie Anm. 2), S. 23.

29 Vgl. [Art.] Kiefer, Keine, Forle, Föhre, Pinus sylvestris, in: Georg Ludwig Hartig/Theodor Hartig, Forstliches und forstnaturwissenschaftliches Conversations-Lexikon, 2. Aufl., Stuttgart/Tübingen 1836, S. 454 – 458, hier S. 457.

30 Vgl. Hilf, Der Wald (wie Anm. 9), S. 22, Abb. 20; vgl. auch Kurt Hueck, Das Pflanzenkleid der Provinz Brandenburg, in: Märkisches Heimatbuch. Eine Einführung in die Geologie, Botanik, Vogelkunde, Naturdenkmalkunde, Vorgeschichte, Geschichte und Volkskunde der Mark Brandenburg, 3. Aufl., Neudamm 1935, S. 51–90, hier S. 76.

31 Werner Lindner, Mark Brandenburg, München 1924, S. 26.

32 Hans Sturm, Märkische Sagen, Leipzig 1923, S. 154. Nach dem damaligen Verständnis der zitierten Publikation handelte es sich beim Handlungsort Zauchel-Neumark um einen märkischen Ort, der heute als Suchodół in Polen liegt.

33 Vgl. u. a. August Trinius, Märkische Streifzüge, Minden 1887, S. 87; vgl. auch Paula Foerster, Der märkische Wanderkamerad, Bd. 4, Berlin-Lichterfelde 1933, S. 7, 20 f. u. 85; Wolf Jobst Siedler, Wanderungen zwischen Oder und Nirgendwo. Das Land der Vorfahren mit der Seele suchend, 3. Aufl., Berlin 1988, S. 73.

34 Vgl. u. a. Max Frentz, Kohlenmeiler bei Poratz. Erinnerungen aus der Zeit der Kohlenschweler, in: Templiner Kreiskalender 9 (1936), S. 58– 60.

35 Es gibt natürlich prominente Gegenbeispiele in der Malerei (Blechens undatierte Kreidestudie einer »Kiefer mit Krone«) und in der Lyrik (zum Beispiel Hellmuth Neumanns Gedicht »Einsame Kiefer«, Eva Strittmatters Zeilen mit dem Titel »November IV, Entdeckung des Dichters Wallace Stevens«). Vgl. zu Blechen: Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin PK, SZ Blechen 610; Das Gedicht von Hellmuth Neumann bei Richard Nordhausen, Unsere märkische Heimat, Streifzüge durch Berlin und Brandenburg, Ein Heimatbuch, 3. Aufl., Leipzig 1929, S. 17; das Gedicht von Eva Strittmatter bei Irmtraut Gutschke, Eva Strittmatter. Leib und Leben, Berlin 2010, S. 124. 36 Vgl. Lars Franke, Von Königseichen und Kirchenlinden. Vierundzwanzig brandenburger Baumgeschichten, Wulkow 2005. Franke gibt sogar über die Geschichte des Efeus (Hedera helix) an der Klosterruine Zehdenick (OHV) Auskunft, gleichwohl dieser aus botanischer Sicht nur schwerlich als Baum angesehen werden kann. Dagegen ignoriert er die märkische Kiefer völlig

37 Vgl. Milnik, Am Waldessaume (wie Anm. 17), u. a. S. 9, Abb. 0.3, S. 40, Abb. 3.21 [betr. sogenannte Lindner-Kiefer in der Schorfheide], Abb. 3.22 [= Maler-Kiefer bei Storkow] u. S. 42, Abb. 3.24.

38 Vgl. Willibald Alexis, Die Hosen des Herrn von Bredow. Ein vaterländischer Roman, 14. Aufl., Leipzig 1901, S. 3; vgl. auch Walter Weede, Die Landschaft bei Willibald Alexis, Rostock, 1931, S. 81.

39 Vgl. u. a. Richard Elsner, Pian. Ein Requiem, [Berlin-Pankow] 1919. Der üppige Bildteil dieses Bändchens strotzt nur so von Abbildungen, die die wandernden Sommerfrischler von einst in hallenartigen Kiefernforsten festhalten.

40 Vgl. Arthur Rehbein, Wunder im Sande. Märkische Wanderbilder, 4. Aufl., Berlin/Leipzig 1923, S. 8.

41 Vgl. ebd., S. 8. Und, wie um seine Verteidigungsschrift noch zu bekräftigen, fügt der Autor seinen Aussagen noch hinzu: »Wer von unserer Kieferndürftigkeit spricht, der weiß aber auch nicht, was für prachtvolle Laubwälder das Land der Föhrenhaine hat.«

42 Vgl. dazu einführend Walter Schmitz, Wilder Wald – Zauberwald – Nationalwald – Ökosystem. Raumprojektionen in den Mythos, Dichtung und Lebenswelt, Dresden 2010, S. 19–35.

43 Zitiert nach Paul Koch, Paradies am Havelsee, in: Michael Grüning, Ein Haus für Albert Einstein. Erinnerungen, Dokumente, Briefe, Berlin 1990, S. 474 – 477, hier S. 475.

44 Dankwart von Arnim, Als Brandenburg noch die Mark hieß. Erinnerungen, Berlin 1991, S. 21.

45 Vgl. http://www.artnet.de/k%C3%BCnstler/walterleistikow/m%C3%A4rkischer-see-bei-sonnenuntergang-qx9Dymd63FSeIVW60CtOgA2 [zuletzt: 26.10.2020].

46 Als L. bezeichnet man in der Forstwirtschaft allgemein die bestandsbildende Baumart. Eine Baumart, die auf einer definierten Fläche aufgrund ihrer waldbaulichen Bedeutung dort die höchste Individuenzahl aufweist.

47 Vgl. Ingo Materna/Wolfgang Ribbe, Geschichte in Daten. Brandenburg, München/Berlin 1995, S. 205.

48 Daniel Siemens, Host Wessel, Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten, München 2009, S. 198 f.

49 Vgl. Hans- Alfred Rosenstock, Zur Geschichte der Preußischen Staatsforstverwaltung, Göttingen 1975, S. 333; vgl. auch Gerhard Stephan, Die Gewinnung des Harzes der Kiefer, 3. Aufl., Remagen Oberwinter 2012, S. 13 u. 89.

50 Vgl. Max Kienitz, Die Harznutzung, in: Zeitschrift für Forst- und Jagdwesen 48 (1916)/IV, S. 161–180, hier S. 169 u. 172; vgl. auch Gustav Adolf Kienitz, Das Schwalbennestverfahren zur Harzgewinnung, in: ebd. 49 (1917)/VIII, S. 359–371, hier S. 359; Rainer Wudowenz, Max Kienitz, in: Albrecht Milnik (Hg.), Im Dienst am Wald, Lebenswege und Leistungen brandenburgischer Forstleute. 145 Biographien aus drei Jahrhunderten, Remagen 2006, S. 253–256, hier S. 255.

51 Vgl. Albrecht Milnik, In Verantwortung für den Wald. Die Geschichte der Forstwirtschaft in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR (hrsg. vom Brandenburgischen Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten), Potsdam 1998, S. 387; vgl. auch Jürgen Hevers, Vom Riß zum Rohharz, Das Ende einer forstlichen Nutzung in der ehemaligen DDR, Braunschweig 1992, S. 12–18, 32–33.

52 Vgl. Albrecht Milnik, August Bier, in: Ders. (Hg.), Im Dienst am Wald (wie Anm. 50), S. 262– 264, hier S. 263; Sehr aufschlussreich sind alle Maßnahmen Biers aufgeführt bei Herbert Krauss, Der Sauener Wald. Das große ökologische Experiment des Chirurgen August Bier nach 70 Jahren, Basel 1986, S. 93 f.

53 Anton Metternich, Die Wüste droht. Die gefährdete Nahrungsgrundlage der menschlichen Gesellschaft, Bremen 1947, S. 70.

54 Ebd.

55 Vgl. Scamoni, Teeröfen als Nachweis (wie Anm. 10).

56 Vgl. http://www.teltow-flaeming.de/de/aktuelles/200.

Abbildungsnachweis

Abb. 1 Nationalgalerie Berlin, gemeinfrei.

Abb. 2, 3 Autor.

 

Der Beitrag erschien in:

Asche, Matthias / Czech, Vinzenz / Göse, Frank / Neitmann, Klaus (Hrsg.): Brandenburgische Erinnerungsorte - Erinnerungsorte in Brandenburg. Band 1 (= Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V., Band 24). Berlin 2021, S. 15-25.

Elisabeth Berner

Sprache, Gesellschaft, Region

Dort, wo Menschen miteinander leben und kommunizieren, reproduzieren und tradieren sie permanent bewusst oder unbewusst – eingeschrieben in Wörter, Phrasen, Texte – historisches und kulturelles Wissen, das über Generationen bewahrt wurde und zum Teil bis in die Anfänge der Geschichte zurückreicht. Sprache ist per se sozial geprägt und dies gilt in umso stärkerem Maße, in dem sie sich unbeeinflusst von normgebenden Instanzen – wie das bei den Dialekten der Fall ist – entwickelte. Mündlichkeit prägt die Entstehung und Geschichte von Sprachen, und erst allmählich kommen auch die schriftlichen Überlieferungen früherer Jahrhunderte als Zeugen der Vergangenheit hinzu und konservieren noch stärker als die Mündlichkeit, die einem natürlichen Wandel unterliegt, das Wissen und die Sprache früherer Zeiten.

Die Herausbildung und die Geschichte von Sprachen und ihrer regionalen Varietäten, der Dialekte wie auch der jüngeren Regiolekte, sind eng mit der Besiedlung, Kultur, den Traditionen eines Landes oder einer Landschaft verbunden und prägen sie sowohl inhaltlich, als auch formal. Brandenburger und Berliner werden von Außenstehenden oft schon nach kurzer Zeit regional zugeordnet, selbst wenn sie nur ein ik oder j (jut) für g verwenden. Die Bindung an eine Region, selbst einen Ort, die Vorstellung, ›anders‹ und damit auch ›besonders‹ zu sein, veranlasst aber auch Mundartsprecherinnen und -sprecher selbst aus sehr wenigen (dialektologisch minimalen) sprachlichen Besonderheiten gegenüber benachbarten Orten die Vorstellung einer eigenen Ortsmundart zu konstruieren, wie stellvertretend an der Einschätzung der Sprache in Lunow, einem Ort im Oderbruch, deutlich wird: »Das Lunower Plattdeutsch ist eine eigene Spielart des Mittelmärkischen. Vermutlich ist dies einerseits bedingt durch die bewahrende Kraft der Ortsgröße und andererseits durch die geographische Nähe zum Nordmärkischen.«1

Zugleich kann die Einbindung in den übergeordneten Dialektverband, auch das zeigt das Zitat, die Identifizierung mit der eigenen Sprache verstärken. Dies gilt für die niederdeutschen Dialekte, zu denen die märkischen gehören, in besonderer Weise, denn das Niederdeutsche besitzt den Status einer Regionalsprache und wird dadurch staatlich als besonders schützenwertes kulturelles Gut anerkannt und gefördert. 1998 ratifizierte die Bundesrepublik die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, also der Sprachen, die »herkömmlicherweise in einem bestimmten Gebiet eines Staates von Angehörigen dieses Staates gebraucht werden« und »die sich von der [den] Amtssprache[n] unterscheiden.«2 In der Präambel wird besonders hervorgehoben, »daß der Schutz der geschichtlich gewachsenen Regional- und Minderheitensprachen zur Erhaltung und Entwicklung der Traditionen und des kulturellen Erbes beitragen.« Dass Niederdeutsch in die Charta aufgenommen wurde, war das Ergebnis einer im Vorfeld auch recht emotional geführten Diskussion, in der neben strukturellen Unterschieden des Niederdeutschen gegenüber dem Hochdeutschen und seinem generellen kulturellen Wert besonders der historische Status als überregionale Verkehrssprache in mittelalterlicher Zeit stark in den Vordergrund gerückt worden war.

Aber auch lange vor der Anerkennung als Regionalsprache gab es eine aktive niederdeutsche Bewegung, die den Dialekten als ›Sprache des Volkes‹ besondere Aufmerksamkeit widmete, um ihrem zunehmenden Rückgang entgegenzuwirken. Denn anders als bei den süddeutschen Dialekten, deren formale Nähe zu der sich seit dem 17. Jahrhundert allmählich etablierenden hochdeutschen Amtssprache und später Standardsprache enger war, erwarben Niederdeutschsprechende das Hochdeutsche (fast) wie eine Fremdsprache. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts mussten die Kinder die Regeln des Hochdeutschen mühsam erlernen, woran sie sich bis ins hohe Alter hinein gut erinnerten: So erzählt Friedrich H. aus Zootzen, geb. 1909 in Rosenwinkel, über seine Erfahrungen in der Schulzeit: »Un ich mit Bernhardn uff eener Bank ... und du weeßt ja, wie der so war. Olle Studt [der Lehrer] sacht: ›merkt euch doch endlich, daß ess nich u heißt, et heeßt au.‹ Nu ja, ach so, des güng so, also: Wir ham immer ›Mus‹ secht un nich ›Maus‹. So wär det ja richtich – Un jenfalls sacht Bernard da: ›Dät mit’n au, det stümt nich, det heeßt ja woll nich Pflaumenmaus, det heeßt doch Pflaumenmus.‹ Na, wir ham anfangs jar nich jewußt, wat det nu sollte. Awer Studt hat’ et gleich verstandn. Un nu häst’n Studt sehn saln ... de steiht un steiht un het keen Wort rutkrägn un denn secht’e: ›Bernard, du büst so klog asn Foss!‹ Un det is det einzichmal west, wo Studt platt rädn har.«3

Ähnlich erinnerte sich auch Frieda M., geb. 1898 in Berlinchen, noch hochbetagt an die Schwierigkeiten, denen Niederdeutsch sprechende Kinder in der Prignitz ausgesetzt waren: »Jo, bi uns in de Schul, da is det all noch’n büschen anders gewesen. In’n ersten Jahrn ham wir noch platt redn dürfn. Na, klar, nur wenn det mit m Hoch nich jing. Un mal ens war det vorbei. Uns öller Köster war wech, un batz, een neuer da. Un det war son richtijen Lehrer, son Studierter, der hat nur hoch geredt. Wat glöwt ji, wat is uns det schwer worn. Un die Schnatzers [pejorativ für die, die von Haus aus bereits hochdeutsch reden; d. Verf.], die hatn det nu jut [...].«4

Dass das Niederdeutsche in Konkurrenz zum Hochdeutschen schließlich unterlag, war aber letztlich ein Prozess, der Jahrhunderte zuvor begonnen hatte. Im Wissen um den endgültigen Verlust kulturellen Erbes entstanden deshalb spätestens seit dem 18. Jahrhundert für das Märkische erste Idiotika (Sammlungen ausgewählter Dialektwörter), im 19. Jahrhundert werden Einzelbeschreibungen und Erklärungen von Wörtern, Namen oder Phrasen veröffentlicht, es folgten umfangreichere Nachrichten über die Volkssprache in Berlin und Brandenburg und seit Beginn des 20. Jahrhunderts einige (wenige) mehr oder weniger umfangreichere Orts- oder Regionalgrammatiken. Laienlinguisten und Wissenschaftler setzen aber auch danach mit einem bewundernswerten Engagement die Wortsammlungen fort und legten damit wichtige Grundlagen für die Erfassung der gerade in Brandenburg unter dem Einfluss der sprachlichen Strahlungskraft der Metropole Berlin beschleunigt zurückgehenden Mundarten. Jedoch erst nachdem im Jahre 1950 ein vierseitiger Artikel erschienen war, in dem die Lehrerinnen und Lehrer Brandenburgs (teils recht pathetisch) zur Beteiligung an der Fragebogenerhebung zum »Brandenburg-Berlinischen Wörterbuch« aufgerufen worden waren, begann eine fast zwei Jahrzehnte währende systematische Erfassung des gesamten in Brandenburg beheimateten Regionalwortschatzes, in dessen Ergebnis 2001 der vierte und damit letzte Band des »Brandenburg-Berlinischen Wörterbuches« erscheinen konnte.5 Dieses Wörterbuch bewahrt nicht nur den alltagssprachlichen Wortschatz, sondern auch umfangreiche Lexik zu Handwerk und Landwirtschaft, zu Produktionstechniken, Flora und Fauna und vieles mehr und stellt damit einen einzigartigen Fundus historischen Wissens dar.

Dass nur wenige Jahre nach Ende des verheerenden Zweiten Weltkrieges und wenige Monate nach der Gründung der DDR solch ein umfangreiches Projekt veranlasst wurde, verweist auf die Achtung, die der »bäuerliche[n] Bevölkerung auf dem Lande, der werktätigen Bevölkerung in den Städten« entgegengebracht wurde und hebt ihre Sprache, genauer: Dialekt als »Ausdruck und Nachklang, nämlich Ausdruck der Besonderheiten des Heimatraumes, seiner Lebensformen, seiner Geschichte, und Nachklang alter, ja manchmal uralter Volkstraditionen«6, hervor. Auch der noch junge Staat erkannte den Wert der in der (Volks-) Sprache verankerten Kultur und sein Potenzial für die Identifikation mit der Gesellschaft.

Die Spuren der Geschichte sind in vielfältiger Weise in die Mundarten eingeschrieben und zeigen das komplexe Wechselspiel von Kontinuität und Brüchen, von Be- und Entsiedlung, von Integration und Abgrenzung, aber auch die Auswirkungen staatlicher Regulierung für die gewachsene Volkssprache. Im Folgenden soll an einigen ausgewählten Beispielen aus den Bereichen der topografischen Namen, der Lexik und der Lautung, die mit der Besiedlungsgeschichte in Verbindung gebracht werden, skizziert werden, wie vielschichtig dabei der Zusammenhang von Sprache und Kultur und deren Tradierung in den Dialekten ist.

Germanisches und Slawisches in den märkischen Dialekten

Die Anfänge der märkischen Dialekte reichen bis in die Zeit der Germanen zurück und auch wenn von ihnen bis auf wenige Runenfunde auf märkischem beziehungsweise brandenburgischem Boden keine eigenen schriftlichen Zeugnisse überliefert sind (sein können), zeigen doch die über Jahrhunderte nur mündlich überlieferten Toponyme vor allem größerer Flüsse die frühe, alteuropäische Sicht der Menschen auf die sie umgebende Welt. Wasser ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, die der siedelnde Mensch benötigt, es dient ihm und seinen Tieren und Pflanzen als Lebensgrundlage. An Gewässern orientiert er sich im Raum, sie verbinden und trennen und es verwunderte deshalb auch nicht, dass gerade sie von Generation zu Generation weitergegeben werden, selbst über Sprachgrenzen hinweg. Flussnamen gehen auf die sogenannten Wasserwörter mit unterschiedlichsten Bedeutungsnuancen zurück, »wie sie den frühen Menschen mit seiner genauen Naturbeobachtung in reichem Maße zu Gebote standen und wie wir Heutige sie in solchem Umfang kaum noch kennen und nachempfinden können«,7 auch wenn es real weniger als zwei Handvoll Grundbedeutungen sind, auf die sie sich zurückführen lassen.

So basiert der seit dem 9. Jahrhundert überlieferte Name der Oder auf einem schon vorgermanischen Wort *ad-ro ›Wasserlauf‹8, wobei das anlautende ad- später unter slawischem Einfluss zu od- wurde. Das schon im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. in lateinischen Quellen belegte Wort für die Elbe gehört zu lat. albus ›weiß‹ und verweist auf ein ›helles Wasser‹ und verallgemeinert diese Bedeutung schon früh zu ›Fluss‹. Erstmalig im 9. Jahrhundert ist die Havel als Habula belegt. Ihre Bedeutung leitet sich aus germanisch hav ›Meer‹ her und lebt fort in hochdeutschen Wörtern wie Hafen und Haff. Motiviert ist die Benennung durch die zahlreichen Windungen und Krümmungen des Flusslaufes, die Ähnlichkeiten mit einer Hafenbucht besitzen beziehungsweise die zahlreichen Seen, die sie durchfließt. Aber auch andere Flüsse, wie die Notte (zu ›nass‹), die Nuthe ›Tal, Furche‹, die Dahme (zu ›stieben, spritzen‹), die Dosse (zu ›wirbeln, stieben‹), der Rhin (zu ›fließen‹) oder die Spree (zu ›stieben‹) bewahren in ihren Namen das für unsere germanischen Vorfahren Bemerkenswerte der sie umgebenden Landschaft.

Seit dem 6. Jahrhundert dringen westslawische Stämme in das inzwischen durch die weitgehende Abwanderung der Germanen nur dünn besiedelte Gebiet zwischen Elbe und Oder. Dass es zwischen ansässig gebliebenen Resten der älteren Bevölkerungsschicht und den Neuankömmlingen Kontakte gegeben hat, ist archäologisch vielfach nachgewiesen, wird aber gerade auch durch die Flussnamen bezeugt, die von den Slawen übernommen, in ihre Sprachen integriert und sprachlich ›eingepasst‹ werden, wie schon das Beispiel der Oder zeigt. Einzelne Stämme, von den Chronisten zu Beginn der schriftlichen Überlieferung als zum Beispiel Sprewanen oder Heveller ›Häveler‹ notiert, benennen sich sogar nach diesen Flüssen – und tradieren dadurch auch deren Namen.

Mit den Slawen werden die sprachlichen Hinterlassenschaften bedeutend vielfältiger. Es sind insbesondere die in großer Zahl belegten charakteristischen Ortsnamen auf -in, -itz und -ow, die auf slawische Herkunft verweisen. Häufig finden sich die topografischen Besonderheiten der Ansiedlung im Namen verankert: So bewahrt Ruppin (zu ›Erdloch‹) die ursprüngliche Ansiedlung in oder bei einer Senke, Pieskow galt ebenso wie zum Beispiel Beelitz als ein ›sandiger Ort‹. Saarow wird als ›Siedlung hinter dem Graben‹ (von denen es noch heute zahlreiche gibt) motiviert, obwohl es direkt am (Scharmützel-)See liegt. Ponitz verweist auf eine ›Stelle, wo Wasser im Boden verschwindet‹, und Wusterwitz erinnert daran, dass es sich um eine ›Siedlung auf einer Insel‹ handelt.

Neben solchen topografischen Besonderheiten sind weitere, für die Ansiedlung wichtige Gegebenheiten sprachbestimmend gewesen. Kränzlin ist motiviert durch das Andenken an die ›Siedlung eines Mannes namens Krenzlin‹, bei Beeskow, ›Ort, wo Holunder wächst‹, waren dagegen die schmackhaften Früchte ausschlaggebend, und Körbitz zeugt von einem ›Ort, wo es Kühe gibt‹.

Und auch jüngere, mit dem Zusatz Wendisch- gebildete Doppelnamen verweisen darauf, dass in der Gegend ursprünglich Wenden lebten. In zahlreichen Fällen legten die deutschen Zuwanderer seit dem 12. Jahrhundert neben den bestehenden, von ihnen vorgefundenen slawischen/wendischen Siedlungen ihre eigenen Dörfer an, übernahmen den Namen des slawischen Ortes und früher oder später wurde dann deutsch/teutonica (villa) oder wendisch/ slavica (villa) hinzugefügt, um die beiden Siedlungen klar voneinander unterscheiden zu können. Interessant ist bei diesen Benennungen, wie zum Beispiel Wendisch-Rietz, dass das Basiswort – hier Rietz – bereits ein slawisches Wort ist, dessen Bedeutung allerdings nicht selten, wie auch in diesem Fall, unklar ist. Die meisten dieser Doppelnamen sind aber nur noch in den jeweiligen Ortsgeschichten oder Quellen bewahrt, denn einige Orte sind wüst geworden wie Wendisch-Buchholz (Wüstung bei Treuenbrietzen) – nicht zu verwechseln mit Märkisch-Buchholz im Landkreis Dahme-Spreewald –, Wendisch-Schauen oder Wendisch-Gehren. Andere haben den Zusatz Jahrhunderte später, insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus, wieder aufgegeben, wie Bork, das zu Alt-Bork umbenannt wurde, Warnow (jetzt Klein Warnow), Wilmersdorf (umbenannt zu Märkisch Wilmersdorf). Bei Wusterhausen im Landkreis Dahme-Spreewald setzte sich der Zusatz Königs gegen Wendisch durch, nachdem Friedrich Wilhelm I. die alte Burg erneuert und erweitert hatte.

Aber auch formal weniger durchsichtige Namen wie Golm ›auf einem Hügel gelegener Ort‹ oder Laaske ›durch Rodung gewonnenes Gebiet‹ bewahren die Besonderheiten der Siedlungstopografie. Ölsen ›Siedlung an der Olse‹ wiederum ist motiviert durch die Lage des Ortes am rechten Nebenarm der Spree, dessen Name ebenfalls slawischer Herkunft ist und auf die am Ufer wachsenden Erlen verweist. Wie an diesen Beispielen deutlich wird, können Namen von einem Bereich auf einen anderen übertragen werden, von Gewässern auf Orte, von Personen auf Orte und von diesen wiederum auf Personen und dann auch auf Einrichtungen (Viadrina ›die an der Oder gelegene‹), Bauwerke (Oder-Spree-Kanal) und weitere Bereiche, wodurch sich ein dichtes Netz gegenseitiger Bezugnahmen und Tradierungen ergibt.

Oft ist es Philologenfleiß zu verdanken, der die Etymologie der Wörter freigelegt hat. Dass es aber auch ein laikales Bewusstsein für die Semantik, Bedeutung also im linguistischen Sinne, und Relevanz von Namen für die Identifikation mit einem Ort gibt, bezeugen zum einen Ortssagen, in denen Namen in ein erklärendes Narrativ gebracht werden, zum anderen die zahlreichen regionalen Veröffentlichungen. In jüngerer Zeit präsentieren sich Städte und Gemeinden auf ihren Websites häufig auch mit Erklärungen zur Herkunft des Ortsnamens. Damit wird das entsprechende Wissen sehr viel stärker ins kollektive Gedächtnis gerufen, als dies bei den traditionellen Medien und der mündlichen Überlieferung möglich war. Nicht zuletzt zeugen aber auch volksetymologische Umdeutungen von Ortsnamen von dem Interesse, die Herkunft eines Ortsnamens zu verstehen. So werden nicht selten Namen, die auch formalen sprachlichen Wandlungen unterliegen und allmählich von der Bevölkerung nicht mehr ›verstanden‹ werden, neu interpretiert. Dies kann sowohl Namen mit einer fremdsprachlichen Basis, aber auch solche mit einheimischen Wortbestandteilen betreffen. Augenfällig ist das zum Beispiel bei dem aus dem Slawischen stammende, direkt am Storkower See gelegene Storkow, eigentlich einer ›Siedlung, bei der Pfähle verwendet wurden‹. Im Stadtwappen, das an jedem Ortseingang Einheimische und Fremde begrüßt, zeigt der Storch deutlich die neue Motivation (Abb. 1).

Da im Niederdeutschen lautlich anstelle eines hochdeutschen ch ein k steht, wird hier über eine lautliche Verbindung eine inhaltliche Assoziation hergestellt und reanalysiert. Noch prominenter ist sicherlich Berlin, eigentlich durch die Lage an einem ›sumpfigen Ort‹ motiviert, das spätestens durch seinen ›Berliner Bären‹ im Stadtwappen wohl von den meisten Menschen nur noch mit diesem in Verbindung gebracht wird. Das ebenfalls aus einer Slawensiedlung entstandene Herzsprung geht auf einen Namen mit der Bedeutung ›Hirschquelle‹ zurück und nicht, wie es nahezuliegen scheint, auf eine unglückliche Liebe. Groß Kreuz, aus slawisch Crucewitz ›Ort, wo Birnbäume stehen‹, wird ebenfalls erst später mit dem Kreuz in Verbindung gebracht. Der amüsant anmutende Name Kuhbier, eigentlich zu einem slawischen ›Ort, wo Kletten wachsen‹, wird mit einer Kuh und Bier assoziiert; Motzen, gelegen am Motzener See, das sich wiederum als ›sumpfiges Gebiet‹ erweist, wird aktuell vorrangig zum umgangssprachlichen motzen ›jemanden beleidigen, nörgelnd schimpfen‹ gestellt. Obwohl die mit Kotzen ›Ort, wo haarige Pflanzen wachsen‹ verbundenen Assoziationen (allerdings wird das o eigentlich lang gesprochen) nicht gerade positiv sind, wurde ein Umbenennungsbegehren in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts von Einheimischen erfolgreich abgewehrt.

Jedoch kann die Uminterpretation eines Namens auch zu berechtigten Aktualisierungen führen, wie das unter anderem bei Nonnendorf der Fall ist. Der Ort wurde ursprünglich nach einem Mann mit dem deutschen Namen Nanno benannt und nachdem er zwischenzeitlich als wüste Feldmark in den Quellen geführt, dann aber wieder aufgebaut wurde, mit dem nahe gelegenen Zisterzienserinnenkloster in Verbindung gebracht.

Niederdeutsche, Niederländer und Hugenotten prägen die märkische Sprachlandschaft

Die entscheidende sprachliche Basis für die märkischen Dialekte wurde in der auf die Slawen folgende mittelalterliche Phase gelegt, in der seit der Herrschaft Albrechts des Bären Siedler überwiegend aus Gebieten des westlich der Elbe gelegenen Altlandes ins Land gerufen wurden. Sie brachten ihre westelbischen niederdeutschen Dialekte mit, die in den neuen Landen durch gegenseitige Beeinflussungen (Interferenzen und Transferenzen) weiterentwickelt wurden und sich allmählich von denen ihrer Herkunftsgebiete unterschieden. Die niederdeutsche Basis ihrer Dialekte zeigt sich grundlegend im Konsonantismus in den unverschobenen Lauten p, t, k gegenüber (p)f, (t)s, (k)ch, so heißt es also Dorp statt Dorf, Wittenberge statt hochdeutsch Weißenberge. Zu den wichtigsten Merkmalen des Niederdeutschen im Vokalismus gehören die einfachen langen Vokalen i:, ü:, u: (mien statt mein, Huus statt Haus, nües statt neues) sowie o: statt des hochdeutschen Diphthonges au (doof statt taub) und e: statt ei (keen statt kein), wie sich auch in volkstümlichen Redewendungen wie Se hett’t int Muulwerk as de Kateker in’n Stert ›sie hat es im Mund(werk), wie es der Eichkater im Schwanz hat‹ zeigt. Andere dialektale Besonderheiten sind kleinräumiger oder haben sich erst allmählich herausgebildet und grenzen Dialektgebiete innerhalb Brandenburgs voneinander ab.

Diese und weitere sprachliche Merkmale führen zu einer größeren Nähe zu Sprachen wie dem Englischen, Niederländischen und – etwas schwächer – Dänischen, Norwegischen oder Schwedischen und dies wird gern als Argument herangezogen, wenn für das Erlernen des Niederdeutschen geworben wird. Sprachhistorisch weist die (Regional-)Sprache aber auch auf die Blütezeit des Niederdeutschen, das Mittelniederdeutsche, zurück, in der die Sprache der Hanse – das sogenannte Hansedeutsch – als Verkehrs-, Geschäfts-, Rechts- und Literatursprache weit über die nördlichen deutschsprachigen Gebiete hinausreichte. Unter den märkischen Städten waren neben Brandenburg auch Berlin-Cölln, Frankfurt/Oder, Havelberg, Kyritz, Perleberg und Pritzwalk Mitglied der Hanse. Diese Hoch-Zeit der Sprache wurde während und auch nach deren Zeit in literarischen Texten tradiert, wie zum Beispiel dem über 22 Meter langen Wandgemälde zum Totentanz in der Marienkirche zu Berlin oder den Erzählungen über den märkischen Till Eulenspiegel Hans Clauert.

Für die mittelalterliche Besiedlung Brandenburgs und die Weiterentwicklung der Dialekte sollten neben den westelbischen Siedlern die aus niederländischen Gebieten einwandernden Kolonisten eine besondere Bedeutung erlangen. Im Landschaftsnamen Fläming (zu lat. flamingi ›Flamen‹) wird die Erinnerung an sie bis heute wachgehalten und in Vereinen gepflegt. Auch hier lassen wieder Namen neugegründeter Orte auf die Herkunft aus der alten Heimat schließen, so zum Beispiel der Ortsname Haseloff, bei dem es sich um die Übernahme des ostflandrischen Haslust ›Haselwäldchen‹ handelt. Brück hat seine Herkunft im westflandrischen Brügge. Der Name bedeutet ›Siedlung an der Brücke‹, wobei Brücke auch ›Damm durch sumpfiges Gelände‹ bedeuten kann. Diese Deutung wäre naheliegender, denn Brück liegt an einem alten Flussübergang über das Urstromtal. Max Bathe9 konnte anschaulich am Beispiel des »siebenfachen Lichterfelde« nachweisen, wie dieser niederländische Herkunftsname in Brandenburg mehrfach für Siedlungsneugründungen weiterverwendet wurde. Während die erste Siedlung unmittelbar auf den niederländischen Herkunftsort zurückweist, der als Lufterfelde auf ein ›Feld, über das der Wind hinwegfegt‹, Bezug nimmt, nehmen die Nachfahren der Kolonisten wiederum den Namen aus der neuen Heimat mit und bewahren auf diese Weise noch über Generationen ihre historische Herkunft, selbst wenn die jüngeren Orte nicht mehr ausschließlich von Niederländern bewohnt werden.

Außer in Orts- und Flurnamen, wie Upstall ›erhöhte Flur, die als Gemeindewiese genutzt wird‹, Fenn ›Moor, Sumpf‹, Dunk ›mit Bäumen bestandene Bodenerhebung‹, prägten die Niederländer die mittelmärkischen Dialekte auch in der Lautung, Lexik und Grammatik.10 So wird die unter dem Einfluss des Niederländischen für Brandenburg charakteristische Aufhellung (Palatalisierung) des Vokals a zu e in det (statt mecklenburgisch dat und südlichem mitteldeutschen das) sogar zur Abgrenzung des Märkischen gegenüber anderen niederdeutschen Dialekten herangezogen (Abb. 2). Am Beispiel des Namens der Havel11 konnte eindrucksvoll gezeigt werden, wie sehr sich an den einzelnen Flussabschnitten die dialektalen Namen – Hagel, Hafel, Hawel, Harel, Hoale, Hahl, Hahle, Hole und andere – unterscheiden und dass die Varianten im mittleren Flussabschnitt, die durch den Ausfall des Konsonanten auffallen – zum Beispiel bei Hoel, Hahl und anderen – niederländischem Einfluss zu verdanken sind. Dieser Ausfall inlautender Konsonanten findet sich auch in alltagssprachlichen Wörtern und gilt als ein Beleg für die niederländische Prägung der (mittel-)märkischen Dialekte. Aber auch das spirantische j statt g, das in Redewendungen wie ›ne jut jebratene Jans is ne jute Jabe Jottes‹ tradiert wird, sind durch die Neuankömmlinge beeinflusst. Dass dieses wie auch andere Merkmale des Märkischen heutzutage eher mit dem Berlinischen in Verbindung gebracht wird, ist vor allem damit zu begründen, dass Berlin ursprünglich auf den gleichen sprachlichen Grundlagen basierte wie die märkischen Dialekte und dieses Merkmal erhalten hat.

In der Lexik bleiben viele der von den Niederländern mitgebrachten Wörter, wie der Splinter für den Holzsplitter, wätern für ›das Vieh tränken‹, Moll für den Maulwurf oder Else für die Erle, die im Garten ungeliebte Päde für die Quecke, die Padde für den Frosch, die (Piss-)Miere für die Ameise oder Pieras (Pierworm, Piermade) für den Regenwurm weitgehend auf die märkischen Dialekte begrenzt. Zahlreich sind aber auch Redewendungen wie De is so klauk, de kann d’Piermadn in’d Er blaffen hörn ›der ist so klug, der kann die Regenwürmer in der Erde bellen hören‹, durch die Wörter im Gedächtnis bleiben können, auch wenn der Dialekt selbst gar nicht mehr aktiv gesprochen wird. Einzelne Wörter, wie der Erpel für den Enterich, gelangen sogar in die Standardsprache. Insgesamt ist festzustellen, dass die Gliederung der märkischen Dialekte in Nord- und (niederländisch geprägtes) Mittelmärkisch wesentlich, wenn auch nicht ausschließlich, auf die niederländischen Siedler zurückzuführen ist.

Und nicht zuletzt (trotz des geringeren Einflusses) sollen auch die Hugenotten erwähnt werden, die 1685 durch den Großen Kurfürsten ins Land eingeladen wurden und hier eine neue Heimat fanden. Vor allem im Gebiet der Uckermark finden sich ihre Spuren zum Beispiel durch den nun heimisch werdenden Tabakanbau. Redewendungen wie doa gääv ik ja keen Piep Toabak up ›da gebe ich ja nun keine Pfeife Tabak drauf‹ (= das hat für mich keinen Wert) oder das weit über Brandenburg verbreitete ›det/dit is starker Tobak‹ nehmen bei ihnen ihren Ausgangspunkt. Insbesondere im Gebiet des Oderbruchs wird die Erinnerung und Tradition des Tabakanbaus und der damit verbundenen Sprache bis heute bewahrt. Mit der Handwerkskunst der Hugenotten verbunden sind aber auch wieder Ortsnamen wie Glashütte, Bruchmühle oder Kalkofen.

Wörter und ihre Geschichte(n)

Insgesamt und unabhängig von Einflüssen aus anderen Sprachen oder Dialekten lässt sich also nicht nur in den Namen, sondern in allen Dialektwörtern Kulturelles entdecken, weil auch in deren Form und Grammatik sprachliche Herkunft eingeschrieben ist. Noch offensichtlicher sind es aber oft die Inhalte der Wörter, in denen die Erfahrungen der Menschen früherer Zeiten sichtbar bleiben. So zeigen die lexikalischen und lautlichen Varianten für die Kartoffel, welch unterschiedliche Merkmale für diese neu eingeführte und zunächst mit Skepsis betrachtete Frucht für die Menschen bestimmend waren: Anfangs als Holländische Tartuffeln bezeichnet, finden sich die Varianten Erdtoffeln, reduziert und lautlich abgewandelt Artoffeln, besonders in der Prignitz weiter verkürzt und lautlich angepasst zu Tüffeln sowie erweitert mit Morphemen, die der geringen Größe entsprechen, Tüffken, Tüfften, selten ist auch Potates belegt.12 Die semantische Verbindung zum Boden und zugleich zur Form stellen die Dialektwörter Erdäpfel, Erdbirnen, Erdschocke oder wieder verkürzt Erfel her. Vermutlich angelehnt an die runde Form sind im Berliner Raum die Knolle und im südlichen Brandenburg auch Knödel (Knudel, Knedel) üblich. In der Uckermark und im nördlichen Odergebiet ist Nudel (sehr wahrscheinlich eine Kürzung aus den Varianten zu Knödel und Ähnlichem) verbreitet, was im Gaststättenbereich gerne werbewirksam als regionale Besonderheit verwendet wird (Abb. 3).

Als letztes Beispiel seien nur einige der Bezeichnungen für die Libelle13 aufgeführt, in der sich menschliche Fantasie und Beobachtungsgabe vereinen. Zartheit und Reinheit, wie bei Jungfer/Jungfrau, Lebensbereich und Lebensweise, vgl. Seejungfer, Wasserjungfer, Spinnjungfer, Himmelspferdchen, Aussehen, Lebensweise und Begegnungen mit dem Menschen, so bei Dickkopf, Doppeldecker, Sommerpuppe, Speckpferdchen, Himmelsziege, Speckfresser, Warzenbeißer, Schillerbock, Schillerbold und anderes, werden in ganz unterschiedlicher Weise kombiniert und lassen so die Faszination der Menschen für diese besonderen Wesen bis heute erkennen.

Wenn auch seit Jahrzehnten das Märkische zunehmend aus dem aktiven Sprachgebrauch schwindet, so gibt es doch noch immer genug Dialektsprecherinnen und -sprecher. Unzählige literarische und regionalgeschichtliche Texte, Urkunden und insbesondere das »Brandenburg Berlinische Wörterbuch« sind wichtige Quellen, die »nicht nur den überlieferten Sprachschatz vor dem Vergessen bewahren, sondern Nutzern, die sich mit Sprach- und Siedlungsgeschichte, mit Sach- und Volkskunde und mit Heimatgeschichte befassen, wertvolles Material bereitstellen«.14 Ebenso können die seit jüngerer Zeit verstärkten Maßnahmen zum Schutz und zur Revitalisierung der märkischen Dialekte als Bestandteil der Regionalsprache Niederdeutsch dazu beitragen, dieses Kulturgut zu bewahren, denn auch in einem vielsprachigen Europa bleibt heimatliche und eben auch sprachliche Bindung ein wesentliches Fundament für ein gemeinsames Zusammenleben.

Anmerkungen

1 Ludolf Parisius, Mittelmärkisches Plattdeutsch im Grenzsaum zum Nordmärkischen aus Lunow an der Oder, Niebüll 2005, S. 11.

2 Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, Straßburg 5. November 1992, hier Teil I, Art 1a. https://rm.coe.int/168007c089 [zuletzt: 10.04.2021].

3 Wolfgang Dost, Untersuchungen zu den sprachlichen Existenzformen Mundart und Umgangssprache im Raum Wittstock unter Einschluß eines nördlichen Vorlandes, Diss. Rostock 1975, S. 152.

4 Ebd., S. 151.

5 Brandenburg-Berlinisches Wörterbuch, 4 Bde., Berlin 1976/2001.

6 Ernst Hadermann, Das Brandenburg-Berlinische Wörterbuch, in: Beilage zum Mitteilungsblatt für die Schulen und Volksbildungsämter des Landes Brandenburg 4 (1950), Nr. 14, S. 1– 4, hier S. 1.

7 Hans Krahe, Unsere ältesten Flußnamen, Wiesbaden 1964, S. 34.

8 Die im Text angeführten etymologischen Angaben werden etwas vereinfacht angegeben und verweisen vor allem auf die zentralen Bedeutungen, wie sie in Reinhard. E. Fischer, Die Ortsnamen der Länder Brandenburg und Berlin. Alter – Herkunft – Bedeutung, Berlin 2005, angeführt sind. Ergänzend wird das vierbändige Brandenburg-Berlinische Wörterbuch (wie Anm. 5) herangezogen. Insgesamt ist die Literatur zu einzelnen Wörtern des Märkischen außerordentlich umfangreich. Bedeutungsangaben erfolgen in einfachen Anführungsanstrichen.

9 Max Bathe, Lichtervelde – Lichterfelde, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 4 (1954/55)/II, S. 95 –121.

10 Vgl. Hermann Teuchert, Die Sprachreste der niederländischen Siedlungen des 12. Jahrhunderts, Neumünster 1944; Ders., Die Mundarten der brandenburgischen Mittelmark und ihres südlichen Vorlandes, Berlin 1964.

11 Anneliese Bretschneider, Die Havel und ihr Name in alter und neuer Zeit, in: Brandenburgische Blätter 3 (1981), S. 71–80, hier S. 76.

12 Brandenburg-Berlinisches Wörterbuch (wie Anm. 5), Bd. 2 (1985), hier S. 883ff.

13 Ebd., Bd. 3 (1994), hier S. 108.

14 Joachim Wiese, Das Brandenburg-Berlinische Wörterbuch (BBW). Geschichte und Publikationsergebnisse, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 54 (2003), S. 219–230, hier S. 230.

Abbildungsnachweis

Abb. 1 Stadtverwaltung Storkow (Mark), PD-Coa-Germany.

Abb. 2 Joachim Schildt/Hartmut Schmidt, Berlinisch. Geschichtliche Einführung in die Sprache einer Stadt, 2. Aufl., Berlin 1992, S. 240.

Abb. 3 Autorin

 

Der Beitrag erschien in:

Asche, Matthias / Czech, Vinzenz / Göse, Frank / Neitmann, Klaus (Hrsg.): Brandenburgische Erinnerungsorte - Erinnerungsorte in Brandenburg. Band 1 (= Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V., Band 24). Berlin 2021, S. 27-27.

Felix Biermann

Im Selbstverständnis und in der Erinnerung der Bevölkerung mag sie nicht gerade im Vordergrund stehen, aber dennoch ist die slawische Frühzeit in Brandenburg allgegenwärtig: Ein großer Teil der Ortsnamen ist slawischen Ursprungs, darunter jener der Landeshauptstadt Potsdam, was auch für die Namen der meisten Regionen, der Seen und Flüsse und indirekt sogar für das ganze Gebiet gilt – Brandenburg (Brendanburg, Brennaburg) tritt bekanntlich als ostfränkisch-sächsische Bezeichnung der Fürstenburg der Heveller im 10. Jahrhundert ins Licht der Geschichte (Abb. 1).

Die slawischen Ortsnamen verwenden wir aber in einer für deutsche Sprachgewohnheiten verschliffenen, einer eingedeutschten Form; die slawische Sprache als solche ist in Brandenburg noch während des Mittelalters weitgehend außer Gebrauch gekommen. Nur in der Niederlausitz unterhalten sich die Angehörigen der sorbischen Minderheit bis heute in ihrer angestammten Sprache.

Dass die slawische Epoche nicht unmittelbar in die Gegenwart wirkt, vielmehr in vieler Hinsicht eine abgeschlossene Epoche bildet, wird beispielsweise auch in archäologischen Beobachtungen zur Siedlungs- und Burgenlandschaft deutlich: Die herrschaftlichen Mittelpunkte des frühen Mittelalters liegen als Burgwälle heute vielfach einsam in Wald und Wiesen, die meisten offenen slawischen Siedlungsplätze sind Agrarland, und selbst manche der früh- bis hochmittelalterlichen ›Burgstädte‹ – ökonomische Zentren und Verkehrsknotenpunkte ihrer Zeit – haben keine Langzeitwirkung entfaltet, sondern sind zu kleinen Ortschaften abgesunken oder ganz verlassen worden. Auch wo sie am Anfang urbaner Erfolgsgeschichten standen, kam es meist zu kleinräumigen Verlagerungen der Siedlungsschwerpunkte, hin zu den neben den alten Zentralorten in den Jahrzehnten um 1200 angelegten Neugründungen.1

Für diese Umbrüche und Diskontinuitäten war zum einen die ostfränkisch-deutsche Eroberung des Gebietes zwischen Elbe, Oder und Neiße verantwortlich, die sich in Etappen vom 10. bis 12./13. Jahrhundert hinzog. Zum anderen – und noch weitaus relevanter – war es die massenhafte Zuwanderung deutscher, flämischer und niederländischer Bevölkerung etwa zwischen 1150 und 1280, die mit neuen Rechtsgepflogenheiten, Herrschafts-, Wirtschafts- und Siedlungsmustern einherging. Dieser Prozess wurde früher allgemein als »Deutsche Ostkolonisation« bezeichnet; zeitweise war sogar von einer »Re-Germanisierung« die Rede, unter Bezug auf die vermeintliche Verbindung zwischen den frühgeschichtlichen Germanen und den Deutschen. Heutzutage spricht man meist von »Deutscher Ostsiedlung«, oder, um ethnisch-nationale Begrifflichkeiten ganz zu vermeiden, von »Verwestlichung«, »Europäisierung« oder nur vom »hoch- und spätmittelalterlichen Landesausbau«. Die verschiedenen Bezeichnungen ändern aber allesamt nichts an den enormen Wandlungen jener Zeitspanne, die das Siedlungsbild, die Landeskultur und die Bevölkerungsstruktur betrafen. In deren Ergebnis waren in Brandenburg nicht mehr slawische, sondern mittelniederdeutsche Dialekte zur Umgangssprache geworden. Dabei hatte sich die slawischsprachige Bevölkerung nach und nach an die Immigranten und ihre Nachfahren assimiliert.2

Slawen hatten den hier betrachteten Raum im fortgeschrittenen 7. Jahrhundert in Besitz genommen, nach der Emigration der dort zuvor siedelnden Germanen im Zuge der Völkerwanderungen. Stämme hatten sich formiert und Herrschaften waren entstanden, unter denen diejenigen der Heveller hervorragten, die sich selbst Stodoranen nannten. Die Hevellerfürsten in der Havelfeste Brandenburg waren in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts mächtig und angesehen, hatten Anteil am Heiratsnetzwerk der europäischen Eliten und beherrschten zeitweise das ganze Land zwischen Elbe und Oder. Eher geringe Verschiebungen der Machtkonstellationen und Ereignisse hätten damals eine dauerhafte Herrschaft ermöglicht, wie sie den Piasten in Polen und den Přemysliden in Böhmen gelungen ist – ein die europäische Landkarte langfristig prägendes Land Stodor lag damals, und noch bis in das 12. Jahrhundert, im Bereich des Möglichen. Es kam bekanntlich aber anders. Als Albrecht der Bär († 1170) im Jahre 1150 das Erbe Pribislaw-Heinrichs, des letzten slawischen Hevellerfürsten, antreten sowie sichern konnte und sich im Ergebnis 1157 erstmals »marchio in Brandenborch« nannte, war diese Option endgültig erledigt. Brandenburg entwickelte sich fortan im Rahmen des Heiligen Römischen Reichs als deutsche Markgrafschaft, die später Kerngebiet Preußens und dann des Deutschen Kaiserreichs wurde, nicht zuletzt mit der Hauptstadt Berlin mitten im alten Slawenland.3

Obgleich das alles auf slawischen Grundlagen beruht, spielten diese in der landesgeschichtlichen Forschung lange eine untergeordnete Rolle. In der Zeit national ausgerichteter Geschichtsschreibung standen sie ohnehin nicht im Fokus des Interesses, zudem gehörten sie eher zur Vor- als zur eigentlichen Geschichte der Mark Brandenburg; immerhin schaffte es Pribislaw-Heinrich – in seiner Rolle als Taufpate Markgraf Ottos I. († 1184) – in die 1898 geschaffene Berliner Siegesallee, wenn auch nur als Nebenfigur des Standbildes seines Täuflings.4 Tatsächlich ist die hier betrachtete Epoche für den Historiker nicht leicht zu erschließen, und zwar aufgrund der Quellenarmut: Die Slawen selbst haben bis in das 12. Jahrhundert weder Urkunden noch Chroniken geschrieben, die Aufzeichnungen der Nachbarn – hier überwiegend aus dem ostfränkisch-deutschen Milieu – sind desgleichen spärlich, oft auch noch unzuverlässig und tendenziös. Das gilt besonders für die Schilderung der religiösen Verhältnisse der lange bei ihrem alten Glauben verharrenden Slawen.

Umso mehr hat sich die Archäologie mit der Zeitspanne vom 7. bis 12. Jahrhundert in Brandenburg beschäftigt, auf die zahlreiche Bodendenkmale und Sachzeugen zurückgehen. Die Vorstellungen und Konzepte zur Slawenzeit, die die Forschungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert beherrschten, unterlagen erheblichem Wandel.5 Das Bild vom einfachen slawischen Leben und seiner anspruchslosen Kultur entwickelte sich dabei frühzeitig zu einer wirkmächtigen Prämisse der deutschen Forscher, wonach die Slawen selbstgenügsam als Fischer, Jäger und Zeidler (Sammler von Wildbienenhonig) in kleinen Siedlungen im urtümlichen Land gesiedelt hätten. Dieser Topos, im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit verbreitet, konnte sowohl mit einer gewissermaßen romantisierenden Sympathie – im Herderschen Sinne6 –, als auch mit Überlegenheitsdünkel und pejorativer Konnotation vorgetragen werden, bis hin zur Unterstellung minderer oder gar fehlender Kultur. Letzteres galt besonders im Kontext mit der deutschen Ostsiedlung, wonach die Zuwanderer überhaupt erst Zivilisation ins Land gebracht hätten. Dass diese Ansätze in der Zeit des Nationalsozialismus zu starker Ausprägung gelangen und auch aggressive, mit Rassentheorien verbundene, oft gegen die Nachbarn im Osten gerichtete tagespolitische Züge annehmen konnten, liegt auf der Hand.7

Nach dem Zweiten Weltkrieg unterlagen diese Vorstellungen einem deutlichen Wandel, der getrennt für die Forschung der beiden deutschen Staaten betrachtet werden sollte. In der DDR rückte die Erforschung der slawischen Frühgeschichte in den Mittelpunkt mediävistischer Bemühungen, woran der aus Lübnitz im Fläming stammende, bedeutende Archäologe Joachim Herrmann (1932–2010), nachmalig Direktor des Berliner Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR, maßgeblichen Anteil hatte. Mit der Slawenforschung konnte man Gemeinschaft mit den östlichen Brudervölkern demonstrieren, einen Gegenentwurf zur germanophil-nationalistischen Wissenschaft der vorangehenden Zeit schaffen, und dann gelang es Herrmann vermeintlich auch noch, zentrale Elemente historisch-materialistischer Geschichtsauffassung archäologisch zu belegen: Das schien am slawischen Burg-Siedlungskomplex von Tornow bei Calau in der Niederlausitz möglich, der vor seiner Abtragung im Braunkohle-Tagebau großflächig ausgegraben worden war.8 Das Modell hatte Bestand, bis Jahrringdaten nach 1989/90 die Fehlerhaftigkeit der Datierungsvorstellungen und damit zugleich auch des politischen Entwurfes bewiesen.9 Das wichtige und weit verbreitete Handbuch »Die Slawen in Deutschland«, 1985 in zweiter Auflage in Ostberlin erschienen, betonte den hohen Anteil der Slawen an der Geschichte Deutschlands, die Vielfalt und den Reichtum ihrer Kultur, während die deutsche Ostsiedlung nicht mehr im Sinne einer ›Kulturträgertheorie‹, sondern als aggressiver Akt des Feudalismus aufgefasst wurde, dessen Opfer gleichermaßen Immigranten und Einheimische waren.10

In der Bundesrepublik Deutschland wirkten in der Wissenschaft zunächst noch alte Deutungsmodelle nach und gewannen mitunter sogar erneut an Schärfe, da die deutsche Teilung und die neu geschaffene Oder-Neiße-Grenze, in deren Folge auch die Neumark als östlicher Teil Brandenburgs polnisches Staatsgebiet geworden war, dem Thema wieder Relevanz verliehen hatte. In den späten 1960er und 1970er Jahren änderte sich aber die Sichtweise. Auch hier wurden die Slawen, die man zuvor mit einem gewissen Fremdheitsgefühl betrachtet hatte, stärker in die Geschichtsbetrachtung integriert und mit ihrer Leistung gewürdigt. Im Rahmen des maßgeblich durch Wolfgang H. Fritze (1916 –1991) am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin entwickelten ›Germania Slavica‹-Konzeptes kamen die friedlichen Aspekte der Begegnung von Deutschen und Slawen im Rahmen der Ostsiedlung, die gegenseitig gewinnbringende Durchdringung, die gemeinsamen Leistungen im Landesausbau zur Geltung. Anstelle eines vermeintlichen Kulturgefälles zwischen Zuwanderern und Einheimischen lag die Betonung nun auf den beiderseitigen Beiträgen zur Schaffung einer neuen Kultur- und Geschichtslandschaft.11

Lange also ein von Politik und Ideologie durchdrungenes Minenfeld, hat die Erforschung der Slawenzeit und ihres Abschlusses, der Ostsiedlungsepoche, seit der deutschen Wiedervereinigung an ideologischer Schärfe verloren. Die historischen Prozesse werden in aller Regel ohne weltanschaulichen Ballast betrachtet. Im Ganzen und zu Recht herrschen in Bezug auf die Ostsiedlung heute im ›Germania Slavica‹-Konzept entwickelte Sichtweisen vor. Dabei gibt es eine gewisse Tendenz zur Verwischung vorhandener wirtschaftlich-kultureller Differenzen zwischen den verschiedenen beteiligten Gruppen und zur Überbetonung harmonischer Aspekte ihrer Kontakte, die das Geschichtsbild generell aber nicht in Frage stellt.12 Insgesamt ist es nach den großen Kontroversen der Vergangenheit in der Forschung eher ruhig geworden. Ein universitäres Institut, das die Slawenzeit von historischer oder archäologischer Seite in den Fokus rücken würde, besitzt Brandenburg nicht. Derzeit aktuelle Forschungsansätze wie Postkolonialismus- oder Migrationsstudien haben die interkulturelle Begegnung von Slawen und Deutschen in Brandenburg meines Wissens noch nicht als Thema entdeckt. Dafür liegen diese Dinge offensichtlich zu weit in der Vergangenheit.

Hingegen verfügen viele Museen, allen voran das Archäologische Landesmuseum im Brandenburger Paulikloster, über umfangreiche Sammlungen von Sachzeugen des frühen und hohen Mittelalters. Außerdem gibt es unmittelbare Erinnerungsorte an die Slawenzeit. Da damals steinerne Burgen noch nicht errichtet wurden und die ersten massiven Kirchenbauten erst in die Zeit der Umbrüche des 12. Jahrhunderts fallen, fehlt es an Monumenten dieser Art. Die am besten erhaltenen Relikte der großen Holzbaukunst der Slawenzeit sind die häufig meterhohen Pfahlfelder am Grunde etlicher Brandenburger Seen, die zu Brücken zwischen Inselburgen beziehungsweise -siedlungen sowie den jeweiligen Seeufern gehörten; am eindrucksvollsten sind die zur Fergitzer Burgwallinsel führenden beiden Brücken im Oberuckersee, deren eine über zwei Kilometer Länge, die andere fast zwanzig Meter Wassertiefe überwand (Abb. 2).13

Solche unterseeischen Monumente sind freilich nur für Taucher erlebbar. Jedoch verteilen sich zahlreiche Burgwälle über das Land, die mit ihren oft erheblichen Ausmaßen und gewaltigen Wällen – Reste aufwändiger Holz-Erde-Befestigungen – von der Herrschaftsorganisation und den kriegerischen Konflikten ihrer Zeit künden. Die rekonstruierte »Slawenburg Raddusch« (Abb. 3), aber auch eindrucksvolle Wallanlagen wie der »Turmberg« von Stolpe an der Oder, Drense in der Uckermark, Wildberg bei Neuruppin, der »Freesdorfer Borchelt« bei Luckau (Abb. 4) oder die Burg Markgraf Geros († 965) auf dem »Grünen Berg« von Gehren in der Niederlausitz sind bedeutende und auch durchaus bekannte Elemente der Kulturlandschaft.14

Die Niederlausitz bildet insgesamt eine besonders faszinierende frühgeschichtliche Burgenregion mit vielen Dutzend kleiner, gleichartiger Niederungsringwälle, die im späten 9. und 10. Jahrhundert als Sitze der vielen Herrschaftsträger der Lusizi dienten. Sie sind mit ihrer Gugelhupfform nicht nur sehr charakteristisch, sondern befinden sich oft auch überraschend nahe beieinander.15

Es erscheint allerdings zweifelhaft, ob diese Denkmale konstitutiv sind für Heimatgefühl und regionale Identifikation, denn die meisten davon liegen ohne jede Kennzeichnung in der Landschaft, werden beweidet oder überpflügt, selbst ortsnahe Burgwälle verbleiben oft weg und beschilderungslos sich selbst, der Geschichte und wuchernder Vegetation überlassen. Offenkundig werden sie nicht allgemein als Sehenswürdigkeiten aufgefasst (Abb. 5).

Der Sagenschatz, der viele dieser als »Schlossberg«, »Schwedenschanze«, »Räuberberg« oder »Borchelt« bezeichneten Anlagen einst umwob, ist eher nostalgische Überlieferung denn lebendige Kultur. Immerhin hat es der »Wendenkönig« zum Paten einiger Hotels und Restaurants gebracht, historische Romane, die Überlieferungen aus der Slawenzeit mit spannende Geschichten verknüpfen, finden einen Käuferkreis, und in Brandenburg an der Havel kann man sich von »Pribislaw und Petrissa« – dem hevellischen Fürstenpaar – durch die Stadt führen lassen.16

Dass die Slawenzeit durchaus präsent bleibt, zumindest in geschichtsinteressierten Kreisen, zeigen aber vor allem die beiden Freilichtmuseen »Slawendorf Brandenburg« in Brandenburg an der Havel und »Stary Lud« in Dissen im Spreewald, die als rekonstruierte Siedlungen und Reenactment-Zentren slawisches Alltagsleben, Handwerkstechniken, Bauweisen und Ähnliches veranschaulichen.17 Unlängst wurde auch der aus dem frühen 11. Jahrhundert stammende Einbaum von Ziesar nachgefertigt und – ein großer Publikumserfolg – auf der Havel zu Brandenburg hinsichtlich seiner Fahrtüchtigkeit erprobt.18 Hier wird die verbreitete Sehnsucht der Moderne nach ursprünglicher und naturnaher Lebensweise bedient.

Freilich gibt es keinen Grund, die Zeit der alten Slawen romantisch zu verklären. Es war zwar ein naturverbundenes Leben; die archäologischen Ausgrabungen zeigen aber, dass viele Aspekte des Alltags wirklich einfach, bescheiden und hart waren. Große Familien lebten ohne individuelle Privatsphäre in kleinen Block- oder Flechtwandhäusern, die im Winter verraucht waren von den Feuerstellen und auch sonst äußerst geringen Komfort boten.19 Anthropologische Untersuchungen an Skelettresten belegen Mangelphasen und schwere, nicht oder unzureichend behandelte Brüche und Krankheiten. Insbesondere Zahnschmerzen dürften ständiger Begleiter der damals lebenden Menschen gewesen sein.20 In großen Feuern verkohlte Wallbefestigungen, Skelettreste von Gewaltopfern und Waffenfunde künden von brutalen kriegerischen Auseinandersetzungen, von denen auch Schriftquellen berichten,21 und Sachwie Textzeugen erinnern an die allgegenwärtige Gefahr, als Sklave gefangen und verkauft zu werden; mancher Bewohner des späteren Brandenburgs wird als Objekt eines globalisierten Sklavenhandels, der vorwiegend über die Ostsee und die Ströme Russlands bis in den Orient reichte, mit Gewalt in ferne Gegenden verschleppt worden sein.22 Im Gegenzug finden wir heute Silbermünzen des 8. bis 10. Jahrhunderts aus Samarkand, Buchara oder Bagdad in märkischem Boden – etwa in den Trümmern einer kriegerisch zerstörten Burg in Potzlow in der Uckermark oder in Form ganzer Schätze wie unlängst im Burgwall von Phöben an der Havel.23

Was, so kann man schließlich fragen, ist über die Orts- und Landschaftsnamen hinaus aus der Slawenzeit geblieben? Die meisten Dörfer und Städte Brandenburgs gehen zwar erst auf die Ostsiedlungszeit zurück. Etliche der heute wichtigen Städte des Landes können sich aber auf bereits slawische Wurzeln – in Form der eingangs genannten Burgstädte – berufen. Das trifft zum Beispiel für Cottbus, Prenzlau, Schwedt und natürlich die Havelstadt Brandenburg selbst zu. Im dortigen Dom wird (mit manchen Unterbrechungen) seit dem 10. Jahrhundert Gottesdienst gehalten, in der Altstädtischen Gotthardtkirche – frühes Gotteshaus der Kaufmannssiedlung Parduin und Ort einer von Pribislaw-Heinrich in den 1140er Jahren gestifteten Prämonstratenserniederlassung – seit der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Auch in Brandenburg weist der kirchliche Bereich, wie anderwärts auch, bemerkenswerte Stetigkeit sowie auch Ortskontinuitäten auf. Manche Klöster reichten noch in die Slawenzeit zurück, zum Beispiel das Prämonstratenserstift in Gramzow, die Zisterzen Dobrilugk, Lehnin, Zinna und Seehausen (Uckermark). Das gilt auch für das vom polnischen Herzog Bolesław III. Schiefmund (1085–1138) vor 1133 gegründete Bistum Lebus. Als Institution besteht seit der Reformation aber keine dieser Einrichtungen mehr.24 Nur in der Niederlausitz blieben slawische Überlieferungen lange, teilweise bis heute, in der dort noch bewahrten sorbischen Volks- und Alltagskultur lebendig.

Im Ganzen sind der Kontinuitäten nicht allzu viele zu nennen, denn die damals geschaffenen Herrschaftsgebilde, Siedlungs- und Verkehrsstrukturen erwiesen sich aufgrund der großen Umbrüche nach 1150 vielfach nicht als dauerhaft. Die gut 500 Jahre währende Zeit eigenständiger slawischer Besiedlung Brandenburgs stellt sich heute, archäologisch betrachtet, eher als eine Ebene unter der heutigen Kulturlandschaft dar, aus der Burgwälle, Ortsnamen und Ortskontinuitäten wie Monumente einer untergegangenen Epoche hervorragen.25

Anmerkungen

1 Zum frühgeschichtlichen Hauptort Brandenburg an der Havel vgl. Klaus Grebe/Kerstin Kirsch/Stefan Dalitz/Sibylle Hogarth, Die Brandenburg im slawischen Mittelalter. Ergebnisse der Ausgrabungen zwischen 1961 und 1983. Siedlungsbefunde und Funde. Katalog der Burg und Siedlungsschnitte, Wünsdorf 2015; zu slawenzeitlichen Zentralorten in Brandenburg allgemein: Felix Biermann, Burgstädtische Zentren der Slawenzeit in Brandenburg, in: Joachim Müller/Klaus Neitmann/Franz Schopper (Hgg.), Wie die Mark entstand. 850 Jahre Mark Brandenburg, Wünsdorf 2009, S. 101–121.

2 Zur deutschen Ostsiedlung vgl. Walter Schlesinger, Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte. Reichenau Vorträge 1970 –1972, Sigmaringen 1975, S. 11–30; Charles Higounet, Die deutsche Ostsiedlung im Mittelalter, 2. Aufl., München 1990; Eike Gringmuth-Dallmer, Siedlungshistorische Voraussetzungen, Verlauf und Ergebnisse des hochmittelalterlichen Landesausbaus im östlichen Deutschland, in: Werner Rösener (Hg.), Grundherrschaft und bäuerliche Gesellschaft im Hochmittelalter, Göttingen 1995, S. 320 –358; Robert Bartlett, Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Eroberung, Kolonisation und kultureller Wandel von 950 bis 1350, München 1998; Felix Biermann, Archäologische Studien zum Dorf der Ostsiedlungszeit. Die Wüstungen Miltendorf und Damsdorf in Brandenburg und das ländliche Siedlungswesen des 12. bis 15. Jahrhunderts in Ostmitteleuropa, Wünsdorf 2010; zur Forschungs- und Rezeptionsgeschichte: Jan M. Piskorski, Die mittelalterliche Ostsiedlung. Ein alter Streit und neue Ergebnisse, in: Ferdinand Seibt/Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter (Hgg.), Transit Brügge – Novgorod. Eine Straße durch die europäische Geschichte. Ausstellungskatalog, Bottrop/Essen 1997, S. 194 –203; Jörg Hackmann/ Christian Lübke, Die mittelalterliche Ostsiedlung in der deutschen Geschichtswissenschaft, in: Jan M. Piskorski (Hg.), Historiographical Approaches to Medieval Colonization of East Central Europe. A comparative Analysis against the Background of other European inter-ethnic Colonization Processes in the Middle Ages, New York 2002, S. 179–217.

3 Zu den historischen Verhältnissen im Hevellerland vom 9. bis 12. Jahrhundert und zur Gründung der Markgrafschaft Brandenburg vgl. Herbert Ludat, An Elbe und Oder um das Jahr 1000. Skizzen zur Politik des Ottonenreiches und der slawischen Mächte in Mitteleuropa, Köln/Wien 1971, sowie Lutz Partenheimer, Die Entstehung der Mark Brandenburg. Mit einem lateinisch-deutschen Quellenanhang, Köln 2007, und die Beiträge bei Müller/Neitmann/ Schopper, Wie die Mark entstand (wie Anm. 1); zur Archäologie: Donat Wehner, Das Land Stodor. Eine Studie zu Struktur und Wandel der slawenzeitlichen Siedlungsräume im Havelland und in der nördlichen Zauche, Rahden 2012.

4 Uta Lehnert, Der Kaiser und die Siegesallee. Réclame Royale, Berlin 1998, S. 102 f., 106.

5 Zur Forschungsgeschichte vgl. Felix Biermann, Berliner und Brandenburger Beiträge zur Slawenforschung von überregionaler Bedeutung, in: Jörg Haspel/Wilfried Menghin (Hgg.), Miscellanea Archaeologica III. Berlin und Brandenburg. Geschichte der archäologischen Forschung, Petersberg 2006, S. 267–276.; mit vielen Bezügen auf den ganzen mittel- und ostdeutschen Raum inklusive Brandenburgs: Susanne Grunwald, Burgwallforschung in Sachsen. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der deutschen prähistorischen Archäologie zwischen 1900 und 1961, Bonn 2019.

6 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 4. Teil, Riga 1791, hier verwendet: ND Berlin 2013, S. 515 –518 [16. Buch, IV. Abschnitt].

7 Vgl. zum Beispiel Sebastian Brather, Slawenbilder. »Slawische Altertumskunde« im 19. und 20. Jahrhundert. Archeologické rozhledy 53 (2001), 717–751; Hackmann/Lübke, Die mittelalterliche Ostsiedlung (wie Anm. 2); Biermann, Archäologische Studien (wie Anm. 2), S. 17–27.

8 Joachim Herrmann, Tornow und Vorberg. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Lausitz, Berlin 1966; Ders., Die germanischen und slawischen Siedlungen und das mittelalterliche Dorf von Tornow, Kr. Calau, Berlin 1973.

9 Vgl. Joachim Henning, Germanen – Slawen – Deutsche. Neue Untersuchungen zum frühgeschichtlichen Siedlungswesen östlich der Elbe, in: Prähistorische Zeitschrift 66 (1991), S. 119 –133; Ders., Archäologische Forschungen an Ringwällen in Niederungslage: die Niederlausitz als Burgenlandschaft des östlichen Mitteleuropas im frühen Mittelalter, in: Ders./Alexander T. Ruttkay (Hgg.), Frühmittelalterlicher Burgenbau in Mittel- und Osteuropa, Bonn 1998, S. 9 –30; Felix Biermann, Slawische Besiedlung zwischen Elbe, Neiße und Lubsza. Archäologische Studien zum Siedlungswesen und zur Sachkultur des frühen und hohen Mittelalters, Bonn 2000, S. 281–290.

10 Joachim Herrmann (Hrsg.), Die Slawen in Deutschland. Geschichte und Kultur der slawischen Stämme westlich von Oder und Neiße vom 6. bis 12. Jahrhundert. Ein Handbuch. Neubearbeitung, Berlin 1985, S. 377– 442.

11 Vgl. zur ›Germania Slavica‹: Wolfgang H. Fritze, Germania Slavica. Zielstellung und Arbeitsprogramm einer interdisziplinären Arbeitsgruppe, in: Ders. (Hg.), Germania Slavica, Bd. 1, Berlin 1980, S. 11– 40; Ders., Die Begegnung von deutschem und slawischem Ethnikum im Bereich der hochmittelalterlichen Ostsiedlung, in: Siedlungsforschung. Archäologie, Geschichte, Geographie 2 (1984), S. 187–219. Sebastian Brather/Christine Kratzke (Hgg.), Auf dem Weg zum Germania Slavica-Konzept. Perspektiven von Geschichtswissenschaft, Archäologie, Onomastik und Kunstgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, Leipzig 2005.

12 Vgl. hierzu Felix Biermann, Konfrontation zwischen Einheimischen und Zuwanderern bei der deutschen Ostsiedlung des Mittelalters, in: Oliver Auge/Felix Biermann/Matthias Müller/ Dirk Schultze (Hgg.), Bereit zum Konflikt. Strategien der Konflikterzeugung und Konfliktbewältigung im Mittelalter, Ostfildern 2008, S. 131–172.

13 Siehe Felix Biermann, Der Burgwall von Fergitz (Uckermark) und die Inselsiedlungen der Slawenzeit im brandenburgischen Raum, in: Ders./Karl Uwe Heussner (Hrsg.), Historische Gewässernutzung im nordostdeutschen Gebiet. Archäologische und geographische Perspektiven, Bonn 2016, S. 27– 144, hier S. 43– 46.

14 Zur Archäologie der Slawen in Brandenburg zuletzt: Felix Biermann/Thomas Kersting, Archäologie der Slawenzeit seit der Wende, in: Michael Meyer/Franz Schopper/Matthias Wemhoff (Hgg.), Feuerstein, Fibel, Fluchttunnel. Archäologie in Berlin und Brandenburg seit der Wende, Wünsdorf 2017, S. 101–120.

15 Vgl. Henning, Germanen – Slawen – Deutsche (wie Anm. 9); Ders., Archäologische Forschungen (wie Anm. 9); Biermann, Slawische Besiedlung (wie Anm. 9).

16 Zu Sagen mit wendischem Bezug aus Brandenburg vgl. zum Beispiel Wilhelm Schwartz, Sagen und alte Geschichten der Mark Brandenburg für Jung und Alt, Berlin 1871, oder – für die Niederlausitz – Erich Schneider, Sagen der Lausitz, Bautzen 1962 (mit zahlreichen jüngeren Auflagen); touristische Einrichtungen, die den Namen »Wendenkönig« führen, gibt es unter anderem in Burg im Spreewald und Prenzlau, ein neuerer historischer Roman aus der Brandenburger Slawenzeit ist beispielsweise Maren Ohlsen, Mein oder Dein – das ist hier die Frage. Eine Zeitreise in die Welt der Slawen, Wünsdorf 2014; zur Stadtführung in Brandenburg: https://www.reiseland-brandenburg.de/poi/havelland/stadtfuehrungen/stadtfuehrungen-mit-ute-schulze/?no_cache=1 [zuletzt: 28.08.2021].

17 Vgl. https://www.slawendorf-brandenburg.de/ [zuletzt: 28.08.2021] und https://www.heimatmuseum-dissen-spreewald.de/index.php?de_freilichtmuseum [zuletzt: 28.08.2021].

18 Thomas Kersting, Der Einbaum von Ziesar, in: Felix Biermann/Thomas Kersting/Anne Klammt (Hgg.), Soziale Gruppen und Gesellschaftsstrukturen im westslawischen Raum, Langenweißbach 2013, S. 451– 456; Hans-Joachim Behnke/Elke Kaiser/Christof Krauskopf/ Franz Schopper (Hgg.), Schwimmendes Holz. Der Nachbau des slawenzeitlichen Einbaums aus Ziesar, Wünsdorf 2018.

19 Vgl. Biermann/Kersting, Archäologie der Slawenzeit (wie Anm. 14), S. 109 f.

20 Vgl. zum Beispiel Bettina Jungklaus, Die spätslawische Bevölkerung von Wusterhausen. Eine anthropologische Rekonstruktion der Lebensbedingungen, in: Felix Biermann/Franz Schopper (Hgg.), Ein spätslawischer Friedhof mit Schwertgräbern von Wusterhausen an der Dosse, Wünsdorf 2012, S. 116 –134; Dies., Ein Beitrag zur Ernährung der Westslawen. Ergebnisse paläontologischer Untersuchungen an Skeletten des 10. bis 13. Jahrhunderts aus Nordostdeutschland, in: Biermann/ Kersting/Klammt, Soziale Gruppen und Gesellschaftsstrukturen (wie Anm. 18), S. 203–210.

21 Vgl. zum Beispiel Felix Biermann, Im Kampf verloren. Ein Schwert aus dem slawischen Burgwall Schönfeld (Uckermark), in: Martina Aufleger/ Petra Tutlies (Hgg.), Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Festschrift für Jürgen Kunow, Bonn 2018, S. 539–546.

22 Zum Sklavenhandel im westslawischen Raum vgl. Joachim Henning, Gefangenenfesseln im slawischen Siedlungsraum und der europäische Sklavenhandel vom 6. bis 12. Jahrhundert. Archäologisches zum Bedeutungswandel von »sklābos – sakāliba – sclavus«, in: Germania. Anzeiger der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts 70 (1992), S. 403– 426; Ders., Strong Rulers – Weak Economy? Rome, the Carolingians and the Archaeology of Slavery in the first Millenium AD, in: Jennifer R. Davis/Michael McCormick (Hgg.), The long Morning of Medieval Europe. New Directions in Early Medieval Studies, Aldershot 2008, S. 33–53.

23 Vgl. zu solchen Funden Biermann/Kersting, Archäologie der Slawenzeit (wie Anm. 14), S. 117–119.

24 Allgemein: Dietrich Kurze, Das Mittelalter. Anfänge und Ausbau der christlichen Kirche in der Mark Brandenburg (bis 1535), in: Ders., BerlinBrandenburgische Kirchengeschichte im Mittelalter. Neun ausgewählte Beiträge, hgg. v. Marie-Luise Heckmann/Susanne Jenks/Stuart Jenks, Berlin 2002, S. 1–110; zu den Klöstern vgl. auch die entsprechenden Beiträge in Heinz-Dieter Heimann/Klaus Neitmann/Winfried Schich (Hgg.), Brandenburgisches Klosterbuch. Handbuch der Klöster, Stifte und Kommenden bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, 2 Bde., Berlin 2010.

25 Dank gilt Dr. Katrin Frey (Prenzlau) sowie Prof. Dr. Benno Biermann (Wenholthausen) für wertvolle Hinweise zum Manuskript sowie Prof. Dr. Matthias Asche (Potsdam) für die Anregung zu diesem Aufsatz.

Abbildungsnachweis

Abb. 1, 3-5 Autor.

Abb. 2 Farbzeichnung von Ottilie Blum.

 

Der Beitrag erschien in:

Asche, Matthias / Czech, Vinzenz / Göse, Frank / Neitmann, Klaus (Hrsg.): Brandenburgische Erinnerungsorte - Erinnerungsorte in Brandenburg. Band 1 (= Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V., Band 24). Berlin 2021, S. 39-49.

Alfred Roggan

Aus der Nachwendezeit ist ein Satz Manfred Stolpes überliefert, der seine Eigenschaft als integrierender Politiker und kundiger Landesvater unterstrich. Er erinnerte anlässlich der Einweihung des Wendischen Museums in Cottbus am 3. Juni 1994 daran, dass »doch fast jeder in Brandenburg eine wendische Großmutter hat.«1 Vielleicht hatte er hier übertrieben, doch zeugte sein Satz vom Wissen um Verwobenes, von jahrhundertelanger Nachbarschaft und von Gemeinsamkeiten.

Die Frage nach ›wendisch oder sorbisch‹? wird oft gestellt. Der Gesetzgeber hat im Gesetz zur Ausgestaltung der Rechte der Sorben/Wenden im Land Brandenburg vom 7. Juli 1994 »der möglichen Verwendung zweier Begriffe für ein und dieselbe Sache Rechnung getragen. Die Bezeichnung Sorben basiert auf der latinisierten Form Surbi bzw. Sorabi, die von der slawischsprachigen Eigenbezeichnung der Sorben (Wenden) als Serbja (obersorbisch) bzw. Serby (niedersorbisch) herkommt. Sie ist dem fränkischen Chronisten Fredegar zu verdanken, der im Jahre 631/32 erstmals einen Stammesverband Surbi nennt. Der Begriff Wenden geht auf die römischen Geschichtsschreiber Plinius d.Ä. und Tacitus zurück, die alle slawischen Stämme [...] als Veneti bzw. Venedi bezeichneten. In der sorbisch-wendischsprachigen Eigenbezeichnung spielt jedoch die Diskussion beider Begriffe ›Sorbe-Wende‹ keine Rolle, da hier die Bezeichnung in beiden Lausitzen auf der Basis des Wurzelmorphems ›serb‹ gleichlautend ›Serb-Sorbe/Wende‹ bzw. ›Serbowka-Sorbin/Wendin‹ ist.«2

Allerdings bevorzugen viele Niederlausitzer die tradierte Benennung ›Wende‹ – sie dominierte in den historischen Schriftäußerungen der Lausitzen, und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden wendischsprachige Menschen auch als Angehörige der Wendischen Nation bezeichnet. Ob der brandenburgische Kurfürst Joachim I. 1525, der Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf 1755 oder der sächsische Geograph Friedrich Christian Franz im Jahre 1800 – sie alle sprachen von der ›wendischen und der deutschen Nation‹. Wer will, kann also von ›Sorben‹ sprechen oder auch von ›Wenden‹; wer will, kann die Umgangssprache der Oberlausitz ›obersorbisch‹ oder ›sorbisch‹ und die der Niederlausitz als ›niedersorbisch‹ oder ›wendisch‹ bezeichnen.

Die Charakterisierungen der wendischen Minderheit in authentischen Berichten scheinen dagegen Darstellungen unterschiedlicher ›Völker‹ zu sein. So überlieferte der Wittenberger 52 Alfred Roggan Pfarrer Christian Gottlieb Schmidt 1789, dass »vornehmlich der Wende voll von Vorurteilen, abergläubisch und ein Feind aller Neuerungen« sei und verweist auf dessen »sclavisches Mißtrauen gegen seine Obern«.3 Eine gewichtige Gegenstimme betont jedoch für dasselbe Jahrhundert: »Galten die Sorben Anfang des 18. Jahrhunderts noch als unzivilisiertes und unchristliches Volk, so hatten sie am Ausgang des Jahrhunderts den Ruf treuer Kirchlichkeit und guter Arbeitsmoral, was neben dem Einfluss pietistischer Kreise auch der Fortsetzung dieser Arbeit durch die Brüdergemeine zuzuschreiben ist.«4

Forschungsvorhaben des Sorbischen Instituts, des Landesdenkmalamtes und weiterer Gremien zur Niederlausitzer Landesgeschichte holen den slawisch-wendischen Beitrag im Landesausbau, in der Bildungs-, Religions- und Militärgeschichte sowie in der Baukultur in die Wahrnehmung, teils auch in die Erinnerung zurück. Dabei wird der Kulturbegriff zunehmend über den der reinen Sprachausübung gesetzt. So hat Elka Tschernokoshewa bei Analysen zur sorbischen Identität und Kultur festgestellt: »Die Gleichstellung von sorbischer/wendischer Sprache und Kultur ist ein Erbe des nationalphilologischen 19. Jahrhunderts und kann sehr schnell in Sprachnationalismus ausarten. Es ist eine Vorstellung von Kultur, welche die nonverbalen Aspekte von Kultur weitgehend ignoriert oder sie zweitrangig behandelt.«5 Berichte aus dem Jüterboger Raum6 haben beispielsweise das lange Bestehen der wendischen Kultur in Tracht und Traditionen festgestellt, obwohl die Sprache dort 150 Jahre zuvor erloschen ist. So lebt in Bezug auf die Niederlausitz mancher Wissensstand von der Wiederholung, mancher vom Neuentdecken, und zur Verbindung beider sagte Christa Wolf: »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.«7

Wer sich also auf das ›Wendische Brandenburg – Serbska Bramborska‹ einlassen will, hat heute die Niederlausitz im Blick, eine Landschaft, die mit zweisprachigen Ortsnamensschildern, farbenfrohen Trachten oder Volksfesten wie Zapust (Fastnacht) und Kokot (Hahnrupfen) auffällt. Fast ist schon vergessen, dass der gesamte Bereich des Landes Brandenburg vor über tausend Jahren slawisches Siedlungsgebiet mit bedeutenden Stämmen wie denen der Heveller, Ploni, Sprewanen, Zamsisi und Lusici war. Gerade die Heveller, die schon den Stand der erblichen Fürstenherrschaft kannten, bereiteten von ihrem Machtmittelpunkt Brennabor, der Brandenburg, aus den deutschen Eroberungen viele Widerstände, Rückschläge und Mühen. Dort ging es durchaus blutig zu. Es spricht von der Weitsicht und wohl auch vom Realitätssinn des aus einer hevellischen Fürstensippe stammenden und zum Christentum übergetretenen Slawenfürsten Pribislaw († 1150), dass er angesichts der nicht enden wollenden siegreichen wie auch sieglosen Kämpfe und zum Entsetzen der auch zu jener Zeit stets besserwissenden ›Patrioten‹ den Markgrafen Albrecht den Bären als seinen Erben einsetzte (Abb. 1). Nur aus diesem Erbe leitete sich der echte Rechtsanspruch der Askanier auf das Havelland und die Brandenburg ab.

Schon am Beginn deutsch-slawischer Beziehungen nahm der Bereich der heutigen Niederlausitz seinen eigenen, nicht den Brandenburger Weg. So hielten sich deren Namensgeber, die Lusici, aus dem im Jahre 983 begonnenen und für über 150 Jahre erfolgreichen Großen Slawenaufstand heraus. Die Lusici als der bedeutendste Stamm auf dem Gebiet der heutigen Niederlausitz bestanden aus etwa 8.000 Personen (vom Kleinkind bis zum Greis), und es herrscht seit geraumer Zeit Konsens darüber, dass sich die deutsche Oberhoheit letztendlich nicht nach blutigen Vernichtungsfeldzügen, sondern in der Folge des 963 erfolgten Heerzuges des Markgrafen Gero ergab. Die klare Kräftelage verlangte dieses Arrangement: Es ist verrückt, doch wurden nicht in den letzten Jahrzehnten gelegentlich für weniger, als Fürst Pribislaw und Albrecht der Bär oder gar die Sippenführer der Lusici für die Zukunftsfähigkeit ihrer Regionen leisteten, bereits Friedens-Nobel-Preise verliehen?

Wie so vieles, fanden sich diese verantwortlichen Regenten in den Traditionslinien slawisch-wendischer Erinnerungen kaum verewigt. Der Abklatsch im Range einer Barbarossa-Sage dagegen wirkt gemessen an der großen Vorgeschichte eher peinlich – Barbarossa wie auch der alte Wendenkönig zogen sich je nach Möglichkeit in geheimnisvolle Berge, also den Kyffhäuser beziehungsweise den Schlossberg bei Burg/Bórkowy, zurück und warteten auf bessere Zeiten.

Die heutige Niederlausitz bekam in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts den Rang als Ostmark und bildete nachfolgend das Markgraftum Lausitz, etwa ab 1500 als ›Nyderlausitz‹ bezeichnet. Um diesen Bereich, nicht gegen seine slawischen Bewohner, wurde oft und mit wechselnden Erfolgen gekämpft. Doch trat eine gewisse Ruhe seit dessen Zuordnung 1370 Abb. 1: Vermittlung eines typischen Geschichtsbildes (Alte Sieges-Allee): Der überhöhte brandenburgische Markgraf Otto I. und der scheinbar zweitrangige wendische Fürst Pribislaw, Ansichtskarte (1898) 54 Alfred Roggan als Nebenland der Krone Böhmens ein. Die Position eines Nebenlandes verhieß bei Einhaltung bestimmter Bedingungen manche Unabhängigkeiten, da Ständerechte respektiert und vorhandene Sprachen und Kulturen als alltagstaugliche Kommunikation bewahrt blieben. So liegt die Keimzelle des heute erlebbaren Wendischen Brandenburgs in der ›Nyderlausitz‹.

Untersuchungen zum mittelalterlichen Landesausbau und der Christianisierung unterstreichen, dass es den massenhaften Zuzug deutscher Siedler in das Gebiet der heutigen Niederlausitz nicht gegeben hat. So lagen große Anteile des mittelalterlichen Landesausbaus in den Händen weniger deutscher und vieler wendischer Neuankömmlinge: »Für die gesamte Niederlausitz verallgemeinert würde dies bedeuten, dass wir mit ganz verschiedenen Herkunftsräumen der Neusiedler rechnen müssen, wobei auch die slawischen Bauern in den untersuchten Orten zu den Neusiedlern gehörten. In Folge dessen bildete die Niederlausitz quasi einen Schmelztiegel unterschiedlicher, durch die Herkunftsräume der einzelnen Siedler geprägten Kulturen.«8 Hier zeigt sich für weite Teile des Landes der frühe Rang einer ›Integrationslandschaft‹, einer deutsch-slawischen ›Miteinanderlandschaft‹ – oder, auf Überlegungen von Stuart Hall gestützt, einer ›Kultur der Hybridität‹. In dieser erhalten Menschen »starke Bindungen zu den Orten ihrer Herkunft und zu ihren Traditionen, jedoch ohne die Illusion, zur Vergangenheit zurückkehren zu können. Sie sind gezwungen, mit den Kulturen, in denen sie leben, zurechtzukommen, ohne sich einfach zu assimilieren und ihre eigene Identität vollständig zu verlieren.«9

In Regionen wie der Lausitz war auch die Christianisierung eine eigenwillige, langwierige Geschichte, obwohl Forschungen zu den eingewanderten beziehungsweise angeworbenen Slawen keine Belege auf eine weiterhin ausgeübte vorchristliche Religion erbrachten. Offensichtlich war der Übergang von einem Polytheismus zum frühen Christentum bereits vollzogen und war dieser vielleicht Bedingung der relativ gleichberechtigten Teilnahme am mittelalterlichen Landesausbau gewesen?

Weiterhin zeigte sich eine bis zur Reformation währende christlich-katholische Situation ohne getrennte Kirchen, denn auf die Muttersprachen der Gemeinden musste wenig Rücksicht genommen werden. Den deutsch- und wendischsprachigen Einwohnern wurde in Latein, nicht in ihren Muttersprachen, gepredigt, und nur seelsorgerische Handlungen bedurften weiterer priesterlicher Sprachkenntnisse. So seltsam das für gegenwärtige Vorstellungen ist – der mittelalterliche Gebrauch des Lateinischen konnte bis zu einem gewissen Grad die Gleichstellung deutscher und slawischer Gläubiger unterstreichen.

Mit der eingeführten Reformation löste sich die alte Vorherrschaft des Katholischen auf, und es wuchs die Dominanz der lutherisch geprägten evangelischen Kirche. Die Differenzierungsprozesse zwischen dem Bewahrenswerten der katholischen und den Neuerungen der evangelischen Religionsausübung erzeugten aber einen hohen Grad von religiösem Pragmatismus. So ließen die Schulenburgs für ihre Besitzungen im Jahre 1574 eine ›Lübbenau-Lieberoser evangelische Kirchenordnung‹ erarbeiten, in der zur Zweisprachigkeit und den katholisch-lateinischen Gesängen folgendes verankert wurde: »(§8) In beiden Städten Lübbenau und Lieberose werden an Feiertagen und Freitags die lateinischen Gesänge behalten – dianderen Tage in den Metten, Vespern, Predigten deutsch Psalmen singen und wendische, um des gemeinen Volkes willen, so der Sprache gewohnt, aber auf den Dörfern soll man es bei den wendischen Gesängen [...] bleiben lassen.«10 Magistrate wie auch adlige Besitzer hatten nicht nur auf die sprachlichen Befindlichkeiten ihrer Untertanen zu achten, sondern ebenso für eine längere Zeit die in den Menschen verankerten katholischen Begriffe für hohe Feierlichkeit zu respektieren.

Mit der Reformation zeigte sich in den Städten die Notwendigkeit zum Einrichten zweier Kirchenarten, einer mit deutscher, einer mit wendischer Sprachpraxis. Durch Forschungen der letzten Jahre erlebt jedoch der Begriff der (städtischen) Wendischen Kirchen eine notwendige Ergänzung mit dem der Wendischen Landkirchen. In den Wendischen Kirchen Cottbus/ Chóśebuz und Vetschau/Wětošow sowie den Wendischen Landkirchen von Dissen/Dešno, Döbbrick/Depsk, Drachhausen/Hochoza, Jänschwalde/Janšojce und Peitz/Picnjo befinden sich seit dem 19. Jahrhundert unter anderem Segens- und Erbauungssprüche an Emporen, Wänden und Glocken in wendischer Sprache (Abb. 2).11 Doch weisen diese überwiegend ganzheitlichen Fassungen eine Merkwürdigkeit auf: Fast alle Kirchen befanden sich nicht in ›philantrophisch privat-adligen‹, sondern im staatsnahen Patronat, und blockhafte Äußerungen einer traditionell wendenfeindlichen Staatspolitik in Brandenburg-Preußen bekommen nicht nur dadurch zusätzliche Risse.

Eine weitere Besonderheit löst allerdings Unverständnis aus: Obwohl die Ausgestaltungen Abb. 2: Kirchgang, Wendische (Kloster-)Kirche Cottbus, Ansichtskarte (um 1925) 56 Alfred Roggan der Wendischen Stadt- und Landkirchen teils von renommierten regionalen oder sogar überregional bekannten Malern und Kirchenmalern, wie Ernst Fey (Berlin), Friedrich Wolters (Berlin) oder Professor Paul Thol (Berlin) geschaffen wurden, finden sie sich in allen vorliegenden Kunstführern und Denkmallisten der letzten hundert Jahre nicht erwähnt. Nach so vielen Jahrzehnten eigenartiger Zurückhaltung ist nun der Bann gebrochen: Das Land Brandenburg nimmt eine Vorreiter-Rolle im sorbischen/wendischen Siedlungs- und Sprachraum bei der Darstellung von Teilen seiner eigenen binationalen Kultur ein. Im Zusammenwirken des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur, des Brandenburgischen Landesdenkmalamtes sowie der Arbeitsgruppe »Erfassung von Zeugnissen der Lebens- und Baukultur der Niederlausitzer Sorben/Wenden«12 beim Sorbischen Institut e.V. sind seit 2020 in einer ersten Bemühung etwa vierzig ›wendische‹ Denkmale in der Denkmaldatenbank des Landes Brandenburg benannt. Der lange Weg bis zu diesem Ergebnis erklärt sich nicht nur aus ›deutscher Unwilligkeit‹, sondern genauso aus wendischer (einseitiger) Orientierung auf Trachten, Sprache und ländlichen Festtraditionen – ein bauhistorischer Beitrag zur brandenburgischen Kultur-Identität ist erst spät als Aufgabe erkannt worden. Dabei bekamen wendischgeprägte bäuerische Volksbauweisen der Niederlausitz13 schon lange Aufmerksamkeit; sie firmierten sogar auf Ansichtskarten als ›Alte Wendische Bauernhäuser‹. Derartige alleinstellende Klassifizierungen sind seitens sorbischer Institutionen nie gewagt worden. Eine Äußerung im Sorbischen Kulturlexikon wiegelt noch weiter ab und erklärt, dass »der Lausitzer Blockbau ein Relikt des skandinavisch-osteuropäisch-alpenländischen Holzbaugebiets ist.«14 Detaillierter und differenzierter wirken Darstellungen aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts, die preußischen Provinzialkonservatoren, wie Theodor Goecke, zu verdanken sind. Er führte im Rahmen seiner Schriftleitungen für die Denkmaltopographien der Kreise Weststernberg und Luckau aus: »Daß aber keine umgestaltenden Bauvorschriften für die Landbevölkerung erlassen wurden, beweist die Tatsache, daß nach wie vor die überwiegend den wendischen Blockhaustypus zeigende südliche Hälfte des Weststernberger Kreises sich scharf abhebt von dem Fachwerkbau der nördlichen Hälfte.«15 Und weiter: »Neben dem Bauernhaus aus Fachwerk haben sich noch verschiedene, auf wendische Vorbilder zurückgehende Blockhäuser herübergerettet.« (Abb. 3)16

Auch weitere Wissenschaftler sahen Hinweise auf wendische Baueinflüsse, so der Bauernhausforscher Robert Mielke, der 1912 im Abschnitt »Das wendische Haus« der Landeskunde der Provinz Brandenburg schrieb: »Dieses Haus, das durchgehend als Blockbau vorkommt, ist über den ganzen Osten und Südosten verbreitet.«17 Seine Beobachtungen zum Erscheinungsbild verbretterter Giebel ergaben, dass »der obere Teil desselben, eine für den wendischen Ursprung recht bezeichnende Form erhält. […] Dieses so eigenartig ausgestattete Giebeldreieck findet sich fast überall, wo Wenden wohnen oder gewohnt haben, und zeugt dann, nachdem Sprache, Sitte und Tracht längst vergessen sind, noch immer von ihrem einstigen Dasein.«18 Robert Mielkes Hinweise zum Giebelverzier, der noch als Erinnerung an Wenden bestehen wird, nachdem Sprache, Sitte und Tracht längst vergessen sind, weisen auf einen wunden Punkt, die Sprache, hin. Abhandlungen zum Schicksal der wendischen Sprache gibt es viele, und vielleicht war ›die Welt noch in Ordnung‹, als sie sowohl in Schulen, als auch in Gottesdiensten zu hören war. Denn eine Sprache, die als Schul- und Gottesdienstsprache diente, hatte stets einen hohen Nimbus. Wie also verschwand diese aus der Öffentlichkeit? Wie ernsthaft auf den Einzelfall bezogene Untersuchungen zu führen wären, belegen Beispiele zweier Pfarrer, die beide ihre Gemeinden in deutscher wie auch wendischer Sprache betreuten. So definierte 1880 der Pfarrer Heinrich Schwellow aus der Gemeinde Hornow/Lěšće (Amtsdauer 1863–1908) seine Aufgabe: »Es liegt in den Händen der Geistlichkeit, das wendische Volk so recht schön ins Deutsche hinüberzuleiten.«19 Doch dem zwischen den Jahren 1913 und 1942 in Dissen/Dešno tätigen Pfarrer Gotthold Schwela/Bogumil Šwjela ging hingegen am 19. Mai 1941 ein Sprachverbot vom Evangelischen Konsistorium der Mark Brandenburg zu: »Der Evangelische Oberkirchenrat hat uns angewiesen, Ihnen im Gebrauch der wendischen Sprache größte Zurückhaltung aufzuerlegen. Insbesondere sollen keine öffentlichen Gottesdienste in wendischer Sprache mehr gehalten werden.«20

Die Beispiele zeigen, dass teils durch administrative Anweisungen, teils durch nationalistisch motivierte Überzeugungen das Predigen in wendischer Sprache vor 1945 ein Ende fand. Dank der 1988 gegründeten und von der evangelischen Kirchenleitung Berlin-Brandenburg anerkannten Arbeitsgruppe »Serbska Namša/Wendischer Gottesdienst« finden nun seit mehr als dreißig Jahren wieder wendische Gottesdienste statt. Allerdings kann man der Wiederaufnahme kein fröhliches ›Es geht weiter‹ bescheinigen – angemessener wäre ein ›Trotz alledem‹.

Die Verfassung des Landes Brandenburg vom 20. August 1992 macht in der Nichtwahrnehmung des deutsch/slawisch-wendischen Anteils in der Landesgeschichte keine Ausnahme. Es könnte gesagt werden, dass die Väter und Mütter der Landesverfassung etwas zu formulieren vergessen haben. Doch was wurde wirklich und von wem vergessen? Denn in der Wendezeit wäre die Zeit für Besinnung und Handeln durch sorbische/wendische Gruppierungen beziehungsweise Personen reif gewesen; es hat jedoch kaum grundsätzliche oder strukturelle Überlegungen gegeben. Somit wurden sowohl Definitionen, wie auch anstehende neue Landesunterteilungen Gremien überlassen, die sich nach kurzen Überlegungen einer kalten Grenzziehung nach Landschaftselementen (Flüsse und anderes), jedenfalls nicht nach den besonderen Geschichts- und Sprachverhältnissen einer über Jahrhunderte gewachsenen Landschaft, widmeten. Die ambitionierte Wiedervereinigung der auf deutschem Staatsgebiet befindlichen Teile der historischen wendischen Niederlausitz, der serbska Dolna Łužyca, wurde so versäumt, und es konnte in der Präambel der Landesverfassung heißen: »Der Landtag hat am 14. April 1992 den Entwurf einer Landesverfassung verabschiedet. Die Brandenburger Bevölkerung hat ihn am 14. Juni 1992 durch Volksentscheid angenommen.« Und so lautet der Artikel 2 (Grundsätze der Verfassung) leider nicht: ›(1) Brandenburg ist ein freiheitliches, rechtsstaatliches, soziales, dem Frieden und der Gerechtigkeit, dem Schutz der natürlichen Umwelt und der Kultur verpflichtetes demokratisches Land, welches in ursprünglicher Gemeinsamkeit deutsch und slawisch-sorbischer/wendischer Menschen begründet und gestaltet wurde. Es strebt die Zusammenarbeit mit anderen Völkern, insbesondere mit dem polnischen Nachbarn, an.‹ Sondern: »(1) Brandenburg ist ein freiheitliches, rechtsstaatliches, soziales, dem Frieden und der Gerechtigkeit, dem Schutz der natürlichen Umwelt und der Kultur verpflichtetes demokratisches Land, welches die Zusammenarbeit mit anderen Völkern, insbesondere mit dem polnischen Nachbarn, anstrebt.«21

Woran denkt eine Brandenburgerin, ein Brandenburger beim Erwähnen einer wendischen Seite des Landes und was steht für wendische Beiträge in der Geschichte und Gegenwart des Landes Brandenburg? Ist es der im Dänischen Krieg von 1864 berühmt gewordene Pionier Karl Klinke/Karlo Klinka aus Bohsdorf-Bóšojce? Sind es die treu der Herrnhuter Brüdergemeine ergebenen wendischen Familien zwischen Burg/Bórkowy, Ströbitz/Strobice und Turnow/Turnow, aus deren Kreis nahezu zwanzig Personen als Missionare beziehungsweise Missionarsfrauen in Surinam, Indien, Südafrika und bei den Inuit Dienst taten? Oder ist es Ludwig Leichhardt, der Australienforscher, der im Stolpeschen Sinne tatsächlich ›eine wendische Großmutter‹ hatte? Vielleicht macht sich brandenburgische Identität auch am berühmten Regiment 26, dem ›Wendenregiment‹, fest, von dem Friedrich der Große sagte, »Die Wenden […] sind eine wackre Kriegerschar, sie fürchten nicht Tod und Gefahr«, und dass er dem Regiment »die Erhaltung der Provinz Schlesien mehr als einmal verdanken könne und niemals das Geleistete vergessen werde«?22

Das Wendische Brandenburg wurde im Jahre 1859 durch Theodor Fontane erkundet. Er, der in späteren Jahren mit der Verleihung des Dr. h.c. der Berliner Philosophischen Fakultät sowie des Mecklenburger Hausordens der »Wendischen Krone« hochgeehrt wurde, beschrieb Werk- und Feiertagsmotive des Spreewaldes genauso wie die Sitten und Gebräuche seiner Bewohner. Nach Frido Mětšk gehörte Fontane »zu den wenigen profilierten Vertretern der deutschen Literatur, die dem ›Wendentum‹ nicht mit Schweigen oder abfälligen Vorurteilen entgegentraten.«23

Alle neugierig Gewordenen konnten ab 1866 von Berlin aus leicht mit der jüngst eingerichteten Eisenbahn Theodor Fontanes Entdeckungen nacherleben. So wurde erst allmählich und nach 1871 verstärkt aus der Neugier der Hauptstädter ein früher Tourismus. Mit der 1899 in Betrieb genommenen Spreewaldbahn, der ›Bimmelguste‹, bot sich fast der ganze Spreewald als erreichbar dar, und Fontanes Beschreibungen zu Lehde/Lědy konnten auf die besiedelte Kaupenlandschaft des Oberspreewaldes übertragen werden: »Man kann nichts Lieblicheres sehen als dieses Lehde, das aus eben so vielen Inseln besteht, als es Häuser hat. Die Spree bildet die große Dorfstraße, darin schmalere Gassen von links und rechts her einmünden. […] Dicht an der Spreestrasse steht das Wohnhaus, ziemlich nahe daran die Stallgebäude.«24 Doch während Lehde zur Fontane-Zeit aus etwa zwei Dutzend Gehöft-Kaupen (wend. kupa = kleine Anhöhe) mit etwa 170 Einwohnern bestand, konnten Besucher der Burger Oberspreewald-Kaupenlandschaft über 600 Blockbau-Einzelgehöfte mit den dazugehörigen Bootsanlagen erleben; Straßen gab es keine, und vom Schulbesuch über die Hochzeit bis zur Bestattung bildeten auch hier Kähne die einzigen Beförderungsmittel. So wurden der Spreewald und seine Randgebiete zu einem Symbol für Wendisches, für Exotik und … naturnaher Lebensführung. Prompt galten schon bald in Berlin wendische Hausmädchen und Ammen als Inbegriff von Gesundheit, aber auch als Statussymbole25 in adligen und großbürgerlichen Familien. Für deren Angestellten wurden in der Berliner Garnisonskirche bis 1902 sogar regelmäßig Gottesdienste in wendischer Sprache abgehalten (Abb. 4).

Die Wendei war allerdings viel größer als der Spreewald; nur fanden sich die wendischen Buchweizenbauern der Calauer Landschaft, die geschickten Weber der Forster-Spremberger Region, die wendischen Arbeiter in der Kohle wie auch in der Landwirtschaft des Senftenberger Reviers überhaupt nicht in die Betrachtungen und Verklärungen einbezogen: Das Segment der kahnfahrenden Spreewaldbauern, der schöngekleideten und ebenso schönsingenden Wendinnen sowie die von vielen Wasserläufen durchzogene Kulturlandschaft mit ihren markanten Blockbauten genügten vollständig der Fixierung von Bildern, die schon bald der fest installierten Darstellung der wendischen Seite des Landes Brandenburg Genüge taten: Diese Schräglage hat sich verewigt.

Eine Wahrnehmungsreduzierung auf den Spreewald, und innerhalb des Spreewaldes wiederum auf die Bewohner der verstreuten ›Außenbereichsgehöfte‹ trat als Folge der Kaupenbesiedlungen und der Friderizianischen Kolonisierung26 ein. Von da an begann sich das Bild der Spreewälder zu formen und der Chronist Christian Carl Gulde gab 1787 seine Beobachtungen bekannt, denn die Spreewälder Kauper »fuhren mit Kähnen, gruben den Acker um für Kohl und Wurzelwerk, doch Hirse, Grütze, Erbsen und Linsen mussten sie kaufen. Wegen des Morastes fütterten sie das Vieh im Stall.«27 Nun war ›das Spreewaldbild‹ fertig, und es zeigte eigentlich nur die Bewohner der Burger Kaupen, der Kolonie und der kleinen (sächsischen) Spreewalddörfchen Lehde/Lědy und Leipe/Lipje. Sie alle waren im 19. Jahrhundert durch ihre Attribute der fast ausschließlichen Kahnnutzung sowie der von Wassergräben umgebenen Einzelgehöfte in der Öffentlichkeit mehr und mehr zu den ›typischen Spreewaldbauern‹ aufgerückt.28 Zeitgleich zu Gulde versah Friedrich Wilhelm von Schmettau auf seiner Kabinettskarte den Burger Kaupenbereich mit dem Hinweis »Burgsche und Cottbuser Holländer«. Hier traf er keine Nationalitätenaussage, sondern er würdigte die an holländische Fertigkeiten erinnernde Art des Landesausbaus. Bis in die 1920er Jahre wurden wendische Spreewaldbauern und wendische Blockbauten Gegenstand von Ausflügen und … Ansichtskarten. Eine kräftige Betonung des Wendischen gab es ebenso in den regionalen Werbungen dieser Zeit, so beispielsweise auf den Etiketten von Spirituosen, Tabakwaren und regionalen Produkten. Allerdings verlieren sich in einschlägigen Populär- wie auch Wissenschaftsbeiträgen bis zum Ende der 1920er Jahre Hinweise auf eine Wendische Baukultur und auf Wendisches Volkstum; stattdessen entdeckte man eine Spreewald-Baukultur und ein spreewäldisches Volks- und Brauchtum. Auch in den Werbungen begann das ›Spreewäldische‹ anstelle des ›Wendischen‹ zu dominieren (Abb. 5) – erläuternd fasst Walter Bloem im Jahre 1933 zusammen: »Überreste des slawischen Volkstums, das aber ganz im Deutschen aufging, sind die Bewohner des Spreewaldes.«29 Diese Haltung stellt überraschend und ohne größere Differenzierungen bis heute einen glattgebügelten Wissensstand dar und man muss wirklich von einem gewaltigen Aufgeben von Alleinstellungsmerkmalen sprechen, wenn das gegenwärtige Produkt- und Tourismus-Marketing Spreewald-Begriffe ›patentieren‹, aber markantes Wendisches im nebligen Hintergrund lässt. An diesem Eindruck ändern auch die Diskussionen nichts, ob im Tourismus Kahnfähr-Frauen wendische Trachten tragen sollten und ob nicht jedes Buswarte-Häuschen mit dem so spreewaldtypischen Schlangenkönig (wužowy kral) zu verzieren sei. Wo zeigt sich ›Wendisches‹ heute? Es existieren zwei politische Gremien: erstens der bereits 1912 gegründete, bis heute bestehende Dachverband Domowina (dt. »Heimat«) als breite kulturelle Organisation; als zweites der erst jüngst durch Wahlen berufene Serbski Sejm (dt. »Wendisches Parlament«) als politische und parlamentarische Interessenvertretung von Sorben/Wenden.

Im Jahre 1958 wurde der Domowina Verlag in Bautzen gegründet, dem seitdem viele Werke zur sorbischen/wendischen Volkskunde, Geschichte und Belletristik zu verdanken sind. Weitere Bildungseinrichtungen sind das in der frühen DDR-Zeit gegründete, heutige Niedersorbische Gymnasium Cottbus und die Wendischen Museen in Cottbus und Lübbenau-Lehde. In Schulen des angestammten wendischen Siedlungsgebietes wird wendischer Sprachunterricht angeboten. Viel Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit bekommen Kindergärten mit dem Witaj-Konzept, welches einen frühen Umgang mit der niedersorbischen Sprache ermöglicht. Selten erwähnt wird, dass die Stadt Cottbus den größten Fundus an bildender Kunst mit sorbischen/wendischen Motiven innerhalb der städtischen Räume Ostdeutschlands zu bieten hat. Diese sind überwiegend in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, im Rahmen DDR-zeitlicher Bau- und Freiraumgestaltungen, entstanden.30

Und an dieser Stelle sei dem Autor eine Vision erlaubt ... Das Land Brandenburg richtet eingedenk seines Alleinstellungsmerkmals »Wendisches Brandenburg – Serbska Bramborska« ein gleichnamiges wendisches Landesmuseum ein. Dieses verteilt sich auf mehrere, bereits vorhandene Standorte, welche für unterschiedliche Schwerpunkte der wendischen Alltags-, Bau- und Geisteskultur stehen:

– die Slawenburg Raddusch für den slawisch-historischen Anteil,

– das Museum Lehde für die urtümliche Spreewaldgeschichte,

– die Wendische Heimatstube Dissen für die bis in die Gegenwart reichende bäuerische Kultur,

– weitere Einrichtungen, wie das Wendische Museum Cottbus und das Heidemuseum Spremberg runden das Aufgaben- und Forschungsfeld erhaltend und weiterführend ab.

Eine Einrichtung, die als Wendisches Landesmuseum originäre Elemente der wendisch-brandenburgischen Identität beinhaltet, könnte sich bei Bildungsträgern und der Öffentlichkeit einer großen Aufmerksamkeit sicher sein.

Anmerkungen

1 Nowy Casnik, Bd. 25, Nr. 46, vom 18.6.1994, S. 4.

2 Anna Kossatz-Kosel [Kosacojc-Kozelowa], Die Sorben (Wenden). Kulturelle Identität einer Minderheit, in: Dominanz der Kulturen und Interkulturalität, Frankfurt am Main/London 2006, S. 221–248.

3 Christian Gottlieb Schmidt, Briefe über die Niederlausitz, Wittenberg 1789, S. 183.

4 Jan Mahling, [Art.] Brüdergemeine, in: Franz Schön/Dietrich Scholze (Hgg.), Sorbisches Kulturlexikon, Bautzen 2014, S. 60 – 62, hier S. 61.

5 Elka Tschernokoshewa (Hg.), Sorbische Identität und Kultur in der Ortslage Proschim (Prožym), Bautzen 2011, S. 15.

6 Dagmar Herbrecht/Heike Kohler/Hannelore Ehrhart (Hgg.), Sechs Jahrzehnte Frauenordination. Ilse Härter zum 60. Ordinationsjubiläum, unveröffentlichtes Manuskript [2002], S. 73–74.

7 Christa Wolf, Kindheitsmuster, Berlin/Weimar 1976, S. 9.

8 Jens Henker/Bettina Jungklaus, Dorfentstehung und Dorfbevölkerung. Fallbeispiele aus der Niederlausitz, in: Heinz Dieter Heimann/Klaus Neitmann/Uwe Tresp (Hgg.), Die Nieder- und Oberlausitz. Konturen einer Integrationslandschaft, Bd. 1, Berlin 2013, S. 293–313, hier S. 300.

9 Stuart Hall, Rassismus und kulturelle Identität, Hamburg 1994, S. 218.

10 Alfred Roggan, Zur sorbischen/wendischen Kulturgeschichte der Niederlausitz. Von Beeskow bis Brody, von Spremberg bis Zary. Eine Landschaft, gewachsen auf slawischen und deutschen Wurzeln, in: Günter Bayerl/Leszek C. Belzyt/Axel Zutz (Hgg.), Handbuch zur Geschichte der Kulturlandschaft der Niederlausitz und südlichen Lubuskie, Cottbus/Berlin 2016, S. 125 –174, hier S. 134.

11 Katja Atanasov/Alfred Roggan/Alfred Simon Roggan, Niedersorbische (wendische) Beschriftungen im öffentlichen Raum der Niederlausitz vom 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, in: Brandenburgische Denkmalpflege 2012/I, S. 77–95.

12 Die AG am Sorbischen Institut: Dr. Peter Schurmann (Ltg.), M.A. Katja Atanasov, Dr.-Ing. Alfred Roggan und der Kulturwissenschaftler Tobias Preßler.

13 Alfred Roggan, Die Blockhausformen des Burger Spreewalds zwischen 1750 und 1850. Ihre Typik und ihre Sonderformen, in: Brandenburgische Denkmalpflege 2009/II, S. 25 –52.

14 Hans Mirtschin, [Art.] Volksbauweise, in: Schön/Scholze, Sorbisches Kulturlexikon (wie Anm. 4), S. 453-457, hier S. 454.

15 Theodor Goecke (Hg.), Die Kunstdenkmäler der Provinz Brandenburg, Bd. 6/III, Berlin 1913, S. XXV–XXVI.

16 Ebd., Bd. 5/I, Berlin 1917, S. L.

17 Robert Mielke, Die Siedlungen, in: Ernst Friedel/Robert Mielke (Hgg.), Landeskunde der Provinz Brandenburg, Bd. 3, Berlin 1912, S. 14 –89, hier S. 49ff.

18 Robert Mielke, Das märkische Bauernhaus, in: Die Provinz Brandenburg in Wort und Bild, Berlin 1900, S. 29 f.

19 Arnošt Muka, Statistik der Lausitzer Sorben, hgg. v. Lorenz, Robert, Bautzen 2019, S. 89.

20 Peter Kunze, [Art.] Sprachverbote, in: Schön/ Scholze, Sorbisches Kulturlexikon (wie Anm. 4), S. 398-400, hier S. 399.

21 Verfassung des Landes Brandenburg vom 20. August 1992; https://bravors.brandenburg.de/de/gesetze-212792#2 [zuletzt: 14.05.2021].

22 Zitiert nach Alfred Roggan, Das Preußische Regiment 26. Das »Wenden-Regiment«, in: Kreiskalender Oder-Spree 2014, S. 18–21.

23 Frido Mětšk, Studien zur Geschichte sorbischdeutscher Kulturbeziehungen, Bautzen 1981, S. 203. Siehe auch: Peter Schurmann, Rudolf Lehmann und seine Forschungen über die Sorben/Wenden. Zwischen politischer Vereinnahmung und Distanz, in: Lětopis 65 (2018)/II, S. 35 – 61.

24 Theodor Fontane, Die schönsten Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Frankfurt am Main 2017, S. 64.

25 Martina Noack, Nach Berlin! Spreewälder Ammen und Kindermädchen in der Großstadt, Cottbus 2008, S. 22.

26 Helmut Kublick, Die Siedlungspolitik Friedrichs des Großen im Kreise Cottbus, Cottbus 1935, S. 104: Die Friderizianische Kolonisierung in der preußischen Niederlausitz erbrachte »nach sorgfältiger Prüfung mindestens 850 Kolonisten und 2 800 Personen«. Sie verteilten sich auf Cottbus, Peitz und neue oder erweiterte Dorfanlagen.

27 Christian Gottlieb Gulde, Gesammelte Nachrichten zur Geschichte der Stadt und der Herrschaft Cottbus, Görlitz 1786/87, S. 64 f.

28 Alfred Roggan, Das Amtsdorf Burg und die Kaupenbesiedlung. Ein außergewöhnlicher Vorgang in der preußischen »Inneren Kolonisation« des frühen 18. Jahrhunderts, Bautzen 2007, S. 72.

29 Walter Bloem, Unvergängliches Deutschland, Berlin 1933, S. 33.

30 Peter Schurmann, Cottbus und die Sorben/Wenden von der Reichsgründung 1871 bis in die Gegenwart, in: Steffen Krestin (Hg.), Das Wendische Cottbus/Serbski Chóśebuz, Cottbus 2011, S. 18–21.

Abbildungsnachweis

Abb. 1 Ansichtskarte 1898.

Abb. 2 Ansichtskarte um 1925, Wendisches Museum Cottbus.

Abb. 3 Ansichtskarte, o.J., Wendisches Museum Cottbus.

Abb. 4 Ansichtskarte um 1912, Wendisches Museum Cottbus.

Abb. 5 Wendisches Museum Cottbus/Sorbisches Kulturarchiv.

 

Der Beitrag erschien in:

Asche, Matthias / Czech, Vinzenz / Göse, Frank / Neitmann, Klaus (Hrsg.): Brandenburgische Erinnerungsorte - Erinnerungsorte in Brandenburg. Band 1 (= Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V., Band 24). Berlin 2021, S. 51-63.


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