Slawisches Brandenburg
Felix Biermann
Im Selbstverständnis und in der Erinnerung der Bevölkerung mag sie nicht gerade im Vordergrund stehen, aber dennoch ist die slawische Frühzeit in Brandenburg allgegenwärtig: Ein großer Teil der Ortsnamen ist slawischen Ursprungs, darunter jener der Landeshauptstadt Potsdam, was auch für die Namen der meisten Regionen, der Seen und Flüsse und indirekt sogar für das ganze Gebiet gilt – Brandenburg (Brendanburg, Brennaburg) tritt bekanntlich als ostfränkisch-sächsische Bezeichnung der Fürstenburg der Heveller im 10. Jahrhundert ins Licht der Geschichte (Abb. 1).
Die slawischen Ortsnamen verwenden wir aber in einer für deutsche Sprachgewohnheiten verschliffenen, einer eingedeutschten Form; die slawische Sprache als solche ist in Brandenburg noch während des Mittelalters weitgehend außer Gebrauch gekommen. Nur in der Niederlausitz unterhalten sich die Angehörigen der sorbischen Minderheit bis heute in ihrer angestammten Sprache.
Dass die slawische Epoche nicht unmittelbar in die Gegenwart wirkt, vielmehr in vieler Hinsicht eine abgeschlossene Epoche bildet, wird beispielsweise auch in archäologischen Beobachtungen zur Siedlungs- und Burgenlandschaft deutlich: Die herrschaftlichen Mittelpunkte des frühen Mittelalters liegen als Burgwälle heute vielfach einsam in Wald und Wiesen, die meisten offenen slawischen Siedlungsplätze sind Agrarland, und selbst manche der früh- bis hochmittelalterlichen ›Burgstädte‹ – ökonomische Zentren und Verkehrsknotenpunkte ihrer Zeit – haben keine Langzeitwirkung entfaltet, sondern sind zu kleinen Ortschaften abgesunken oder ganz verlassen worden. Auch wo sie am Anfang urbaner Erfolgsgeschichten standen, kam es meist zu kleinräumigen Verlagerungen der Siedlungsschwerpunkte, hin zu den neben den alten Zentralorten in den Jahrzehnten um 1200 angelegten Neugründungen.1
Für diese Umbrüche und Diskontinuitäten war zum einen die ostfränkisch-deutsche Eroberung des Gebietes zwischen Elbe, Oder und Neiße verantwortlich, die sich in Etappen vom 10. bis 12./13. Jahrhundert hinzog. Zum anderen – und noch weitaus relevanter – war es die massenhafte Zuwanderung deutscher, flämischer und niederländischer Bevölkerung etwa zwischen 1150 und 1280, die mit neuen Rechtsgepflogenheiten, Herrschafts-, Wirtschafts- und Siedlungsmustern einherging. Dieser Prozess wurde früher allgemein als »Deutsche Ostkolonisation« bezeichnet; zeitweise war sogar von einer »Re-Germanisierung« die Rede, unter Bezug auf die vermeintliche Verbindung zwischen den frühgeschichtlichen Germanen und den Deutschen. Heutzutage spricht man meist von »Deutscher Ostsiedlung«, oder, um ethnisch-nationale Begrifflichkeiten ganz zu vermeiden, von »Verwestlichung«, »Europäisierung« oder nur vom »hoch- und spätmittelalterlichen Landesausbau«. Die verschiedenen Bezeichnungen ändern aber allesamt nichts an den enormen Wandlungen jener Zeitspanne, die das Siedlungsbild, die Landeskultur und die Bevölkerungsstruktur betrafen. In deren Ergebnis waren in Brandenburg nicht mehr slawische, sondern mittelniederdeutsche Dialekte zur Umgangssprache geworden. Dabei hatte sich die slawischsprachige Bevölkerung nach und nach an die Immigranten und ihre Nachfahren assimiliert.2
Slawen hatten den hier betrachteten Raum im fortgeschrittenen 7. Jahrhundert in Besitz genommen, nach der Emigration der dort zuvor siedelnden Germanen im Zuge der Völkerwanderungen. Stämme hatten sich formiert und Herrschaften waren entstanden, unter denen diejenigen der Heveller hervorragten, die sich selbst Stodoranen nannten. Die Hevellerfürsten in der Havelfeste Brandenburg waren in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts mächtig und angesehen, hatten Anteil am Heiratsnetzwerk der europäischen Eliten und beherrschten zeitweise das ganze Land zwischen Elbe und Oder. Eher geringe Verschiebungen der Machtkonstellationen und Ereignisse hätten damals eine dauerhafte Herrschaft ermöglicht, wie sie den Piasten in Polen und den Přemysliden in Böhmen gelungen ist – ein die europäische Landkarte langfristig prägendes Land Stodor lag damals, und noch bis in das 12. Jahrhundert, im Bereich des Möglichen. Es kam bekanntlich aber anders. Als Albrecht der Bär († 1170) im Jahre 1150 das Erbe Pribislaw-Heinrichs, des letzten slawischen Hevellerfürsten, antreten sowie sichern konnte und sich im Ergebnis 1157 erstmals »marchio in Brandenborch« nannte, war diese Option endgültig erledigt. Brandenburg entwickelte sich fortan im Rahmen des Heiligen Römischen Reichs als deutsche Markgrafschaft, die später Kerngebiet Preußens und dann des Deutschen Kaiserreichs wurde, nicht zuletzt mit der Hauptstadt Berlin mitten im alten Slawenland.3
Obgleich das alles auf slawischen Grundlagen beruht, spielten diese in der landesgeschichtlichen Forschung lange eine untergeordnete Rolle. In der Zeit national ausgerichteter Geschichtsschreibung standen sie ohnehin nicht im Fokus des Interesses, zudem gehörten sie eher zur Vor- als zur eigentlichen Geschichte der Mark Brandenburg; immerhin schaffte es Pribislaw-Heinrich – in seiner Rolle als Taufpate Markgraf Ottos I. († 1184) – in die 1898 geschaffene Berliner Siegesallee, wenn auch nur als Nebenfigur des Standbildes seines Täuflings.4 Tatsächlich ist die hier betrachtete Epoche für den Historiker nicht leicht zu erschließen, und zwar aufgrund der Quellenarmut: Die Slawen selbst haben bis in das 12. Jahrhundert weder Urkunden noch Chroniken geschrieben, die Aufzeichnungen der Nachbarn – hier überwiegend aus dem ostfränkisch-deutschen Milieu – sind desgleichen spärlich, oft auch noch unzuverlässig und tendenziös. Das gilt besonders für die Schilderung der religiösen Verhältnisse der lange bei ihrem alten Glauben verharrenden Slawen.
Umso mehr hat sich die Archäologie mit der Zeitspanne vom 7. bis 12. Jahrhundert in Brandenburg beschäftigt, auf die zahlreiche Bodendenkmale und Sachzeugen zurückgehen. Die Vorstellungen und Konzepte zur Slawenzeit, die die Forschungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert beherrschten, unterlagen erheblichem Wandel.5 Das Bild vom einfachen slawischen Leben und seiner anspruchslosen Kultur entwickelte sich dabei frühzeitig zu einer wirkmächtigen Prämisse der deutschen Forscher, wonach die Slawen selbstgenügsam als Fischer, Jäger und Zeidler (Sammler von Wildbienenhonig) in kleinen Siedlungen im urtümlichen Land gesiedelt hätten. Dieser Topos, im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit verbreitet, konnte sowohl mit einer gewissermaßen romantisierenden Sympathie – im Herderschen Sinne6 –, als auch mit Überlegenheitsdünkel und pejorativer Konnotation vorgetragen werden, bis hin zur Unterstellung minderer oder gar fehlender Kultur. Letzteres galt besonders im Kontext mit der deutschen Ostsiedlung, wonach die Zuwanderer überhaupt erst Zivilisation ins Land gebracht hätten. Dass diese Ansätze in der Zeit des Nationalsozialismus zu starker Ausprägung gelangen und auch aggressive, mit Rassentheorien verbundene, oft gegen die Nachbarn im Osten gerichtete tagespolitische Züge annehmen konnten, liegt auf der Hand.7
Nach dem Zweiten Weltkrieg unterlagen diese Vorstellungen einem deutlichen Wandel, der getrennt für die Forschung der beiden deutschen Staaten betrachtet werden sollte. In der DDR rückte die Erforschung der slawischen Frühgeschichte in den Mittelpunkt mediävistischer Bemühungen, woran der aus Lübnitz im Fläming stammende, bedeutende Archäologe Joachim Herrmann (1932–2010), nachmalig Direktor des Berliner Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR, maßgeblichen Anteil hatte. Mit der Slawenforschung konnte man Gemeinschaft mit den östlichen Brudervölkern demonstrieren, einen Gegenentwurf zur germanophil-nationalistischen Wissenschaft der vorangehenden Zeit schaffen, und dann gelang es Herrmann vermeintlich auch noch, zentrale Elemente historisch-materialistischer Geschichtsauffassung archäologisch zu belegen: Das schien am slawischen Burg-Siedlungskomplex von Tornow bei Calau in der Niederlausitz möglich, der vor seiner Abtragung im Braunkohle-Tagebau großflächig ausgegraben worden war.8 Das Modell hatte Bestand, bis Jahrringdaten nach 1989/90 die Fehlerhaftigkeit der Datierungsvorstellungen und damit zugleich auch des politischen Entwurfes bewiesen.9 Das wichtige und weit verbreitete Handbuch »Die Slawen in Deutschland«, 1985 in zweiter Auflage in Ostberlin erschienen, betonte den hohen Anteil der Slawen an der Geschichte Deutschlands, die Vielfalt und den Reichtum ihrer Kultur, während die deutsche Ostsiedlung nicht mehr im Sinne einer ›Kulturträgertheorie‹, sondern als aggressiver Akt des Feudalismus aufgefasst wurde, dessen Opfer gleichermaßen Immigranten und Einheimische waren.10
In der Bundesrepublik Deutschland wirkten in der Wissenschaft zunächst noch alte Deutungsmodelle nach und gewannen mitunter sogar erneut an Schärfe, da die deutsche Teilung und die neu geschaffene Oder-Neiße-Grenze, in deren Folge auch die Neumark als östlicher Teil Brandenburgs polnisches Staatsgebiet geworden war, dem Thema wieder Relevanz verliehen hatte. In den späten 1960er und 1970er Jahren änderte sich aber die Sichtweise. Auch hier wurden die Slawen, die man zuvor mit einem gewissen Fremdheitsgefühl betrachtet hatte, stärker in die Geschichtsbetrachtung integriert und mit ihrer Leistung gewürdigt. Im Rahmen des maßgeblich durch Wolfgang H. Fritze (1916 –1991) am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin entwickelten ›Germania Slavica‹-Konzeptes kamen die friedlichen Aspekte der Begegnung von Deutschen und Slawen im Rahmen der Ostsiedlung, die gegenseitig gewinnbringende Durchdringung, die gemeinsamen Leistungen im Landesausbau zur Geltung. Anstelle eines vermeintlichen Kulturgefälles zwischen Zuwanderern und Einheimischen lag die Betonung nun auf den beiderseitigen Beiträgen zur Schaffung einer neuen Kultur- und Geschichtslandschaft.11
Lange also ein von Politik und Ideologie durchdrungenes Minenfeld, hat die Erforschung der Slawenzeit und ihres Abschlusses, der Ostsiedlungsepoche, seit der deutschen Wiedervereinigung an ideologischer Schärfe verloren. Die historischen Prozesse werden in aller Regel ohne weltanschaulichen Ballast betrachtet. Im Ganzen und zu Recht herrschen in Bezug auf die Ostsiedlung heute im ›Germania Slavica‹-Konzept entwickelte Sichtweisen vor. Dabei gibt es eine gewisse Tendenz zur Verwischung vorhandener wirtschaftlich-kultureller Differenzen zwischen den verschiedenen beteiligten Gruppen und zur Überbetonung harmonischer Aspekte ihrer Kontakte, die das Geschichtsbild generell aber nicht in Frage stellt.12 Insgesamt ist es nach den großen Kontroversen der Vergangenheit in der Forschung eher ruhig geworden. Ein universitäres Institut, das die Slawenzeit von historischer oder archäologischer Seite in den Fokus rücken würde, besitzt Brandenburg nicht. Derzeit aktuelle Forschungsansätze wie Postkolonialismus- oder Migrationsstudien haben die interkulturelle Begegnung von Slawen und Deutschen in Brandenburg meines Wissens noch nicht als Thema entdeckt. Dafür liegen diese Dinge offensichtlich zu weit in der Vergangenheit.
Hingegen verfügen viele Museen, allen voran das Archäologische Landesmuseum im Brandenburger Paulikloster, über umfangreiche Sammlungen von Sachzeugen des frühen und hohen Mittelalters. Außerdem gibt es unmittelbare Erinnerungsorte an die Slawenzeit. Da damals steinerne Burgen noch nicht errichtet wurden und die ersten massiven Kirchenbauten erst in die Zeit der Umbrüche des 12. Jahrhunderts fallen, fehlt es an Monumenten dieser Art. Die am besten erhaltenen Relikte der großen Holzbaukunst der Slawenzeit sind die häufig meterhohen Pfahlfelder am Grunde etlicher Brandenburger Seen, die zu Brücken zwischen Inselburgen beziehungsweise -siedlungen sowie den jeweiligen Seeufern gehörten; am eindrucksvollsten sind die zur Fergitzer Burgwallinsel führenden beiden Brücken im Oberuckersee, deren eine über zwei Kilometer Länge, die andere fast zwanzig Meter Wassertiefe überwand (Abb. 2).13
Solche unterseeischen Monumente sind freilich nur für Taucher erlebbar. Jedoch verteilen sich zahlreiche Burgwälle über das Land, die mit ihren oft erheblichen Ausmaßen und gewaltigen Wällen – Reste aufwändiger Holz-Erde-Befestigungen – von der Herrschaftsorganisation und den kriegerischen Konflikten ihrer Zeit künden. Die rekonstruierte »Slawenburg Raddusch« (Abb. 3), aber auch eindrucksvolle Wallanlagen wie der »Turmberg« von Stolpe an der Oder, Drense in der Uckermark, Wildberg bei Neuruppin, der »Freesdorfer Borchelt« bei Luckau (Abb. 4) oder die Burg Markgraf Geros († 965) auf dem »Grünen Berg« von Gehren in der Niederlausitz sind bedeutende und auch durchaus bekannte Elemente der Kulturlandschaft.14
Die Niederlausitz bildet insgesamt eine besonders faszinierende frühgeschichtliche Burgenregion mit vielen Dutzend kleiner, gleichartiger Niederungsringwälle, die im späten 9. und 10. Jahrhundert als Sitze der vielen Herrschaftsträger der Lusizi dienten. Sie sind mit ihrer Gugelhupfform nicht nur sehr charakteristisch, sondern befinden sich oft auch überraschend nahe beieinander.15
Es erscheint allerdings zweifelhaft, ob diese Denkmale konstitutiv sind für Heimatgefühl und regionale Identifikation, denn die meisten davon liegen ohne jede Kennzeichnung in der Landschaft, werden beweidet oder überpflügt, selbst ortsnahe Burgwälle verbleiben oft weg und beschilderungslos sich selbst, der Geschichte und wuchernder Vegetation überlassen. Offenkundig werden sie nicht allgemein als Sehenswürdigkeiten aufgefasst (Abb. 5).
Der Sagenschatz, der viele dieser als »Schlossberg«, »Schwedenschanze«, »Räuberberg« oder »Borchelt« bezeichneten Anlagen einst umwob, ist eher nostalgische Überlieferung denn lebendige Kultur. Immerhin hat es der »Wendenkönig« zum Paten einiger Hotels und Restaurants gebracht, historische Romane, die Überlieferungen aus der Slawenzeit mit spannende Geschichten verknüpfen, finden einen Käuferkreis, und in Brandenburg an der Havel kann man sich von »Pribislaw und Petrissa« – dem hevellischen Fürstenpaar – durch die Stadt führen lassen.16
Dass die Slawenzeit durchaus präsent bleibt, zumindest in geschichtsinteressierten Kreisen, zeigen aber vor allem die beiden Freilichtmuseen »Slawendorf Brandenburg« in Brandenburg an der Havel und »Stary Lud« in Dissen im Spreewald, die als rekonstruierte Siedlungen und Reenactment-Zentren slawisches Alltagsleben, Handwerkstechniken, Bauweisen und Ähnliches veranschaulichen.17 Unlängst wurde auch der aus dem frühen 11. Jahrhundert stammende Einbaum von Ziesar nachgefertigt und – ein großer Publikumserfolg – auf der Havel zu Brandenburg hinsichtlich seiner Fahrtüchtigkeit erprobt.18 Hier wird die verbreitete Sehnsucht der Moderne nach ursprünglicher und naturnaher Lebensweise bedient.
Freilich gibt es keinen Grund, die Zeit der alten Slawen romantisch zu verklären. Es war zwar ein naturverbundenes Leben; die archäologischen Ausgrabungen zeigen aber, dass viele Aspekte des Alltags wirklich einfach, bescheiden und hart waren. Große Familien lebten ohne individuelle Privatsphäre in kleinen Block- oder Flechtwandhäusern, die im Winter verraucht waren von den Feuerstellen und auch sonst äußerst geringen Komfort boten.19 Anthropologische Untersuchungen an Skelettresten belegen Mangelphasen und schwere, nicht oder unzureichend behandelte Brüche und Krankheiten. Insbesondere Zahnschmerzen dürften ständiger Begleiter der damals lebenden Menschen gewesen sein.20 In großen Feuern verkohlte Wallbefestigungen, Skelettreste von Gewaltopfern und Waffenfunde künden von brutalen kriegerischen Auseinandersetzungen, von denen auch Schriftquellen berichten,21 und Sachwie Textzeugen erinnern an die allgegenwärtige Gefahr, als Sklave gefangen und verkauft zu werden; mancher Bewohner des späteren Brandenburgs wird als Objekt eines globalisierten Sklavenhandels, der vorwiegend über die Ostsee und die Ströme Russlands bis in den Orient reichte, mit Gewalt in ferne Gegenden verschleppt worden sein.22 Im Gegenzug finden wir heute Silbermünzen des 8. bis 10. Jahrhunderts aus Samarkand, Buchara oder Bagdad in märkischem Boden – etwa in den Trümmern einer kriegerisch zerstörten Burg in Potzlow in der Uckermark oder in Form ganzer Schätze wie unlängst im Burgwall von Phöben an der Havel.23
Was, so kann man schließlich fragen, ist über die Orts- und Landschaftsnamen hinaus aus der Slawenzeit geblieben? Die meisten Dörfer und Städte Brandenburgs gehen zwar erst auf die Ostsiedlungszeit zurück. Etliche der heute wichtigen Städte des Landes können sich aber auf bereits slawische Wurzeln – in Form der eingangs genannten Burgstädte – berufen. Das trifft zum Beispiel für Cottbus, Prenzlau, Schwedt und natürlich die Havelstadt Brandenburg selbst zu. Im dortigen Dom wird (mit manchen Unterbrechungen) seit dem 10. Jahrhundert Gottesdienst gehalten, in der Altstädtischen Gotthardtkirche – frühes Gotteshaus der Kaufmannssiedlung Parduin und Ort einer von Pribislaw-Heinrich in den 1140er Jahren gestifteten Prämonstratenserniederlassung – seit der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Auch in Brandenburg weist der kirchliche Bereich, wie anderwärts auch, bemerkenswerte Stetigkeit sowie auch Ortskontinuitäten auf. Manche Klöster reichten noch in die Slawenzeit zurück, zum Beispiel das Prämonstratenserstift in Gramzow, die Zisterzen Dobrilugk, Lehnin, Zinna und Seehausen (Uckermark). Das gilt auch für das vom polnischen Herzog Bolesław III. Schiefmund (1085–1138) vor 1133 gegründete Bistum Lebus. Als Institution besteht seit der Reformation aber keine dieser Einrichtungen mehr.24 Nur in der Niederlausitz blieben slawische Überlieferungen lange, teilweise bis heute, in der dort noch bewahrten sorbischen Volks- und Alltagskultur lebendig.
Im Ganzen sind der Kontinuitäten nicht allzu viele zu nennen, denn die damals geschaffenen Herrschaftsgebilde, Siedlungs- und Verkehrsstrukturen erwiesen sich aufgrund der großen Umbrüche nach 1150 vielfach nicht als dauerhaft. Die gut 500 Jahre währende Zeit eigenständiger slawischer Besiedlung Brandenburgs stellt sich heute, archäologisch betrachtet, eher als eine Ebene unter der heutigen Kulturlandschaft dar, aus der Burgwälle, Ortsnamen und Ortskontinuitäten wie Monumente einer untergegangenen Epoche hervorragen.25
Anmerkungen
1 Zum frühgeschichtlichen Hauptort Brandenburg an der Havel vgl. Klaus Grebe/Kerstin Kirsch/Stefan Dalitz/Sibylle Hogarth, Die Brandenburg im slawischen Mittelalter. Ergebnisse der Ausgrabungen zwischen 1961 und 1983. Siedlungsbefunde und Funde. Katalog der Burg und Siedlungsschnitte, Wünsdorf 2015; zu slawenzeitlichen Zentralorten in Brandenburg allgemein: Felix Biermann, Burgstädtische Zentren der Slawenzeit in Brandenburg, in: Joachim Müller/Klaus Neitmann/Franz Schopper (Hgg.), Wie die Mark entstand. 850 Jahre Mark Brandenburg, Wünsdorf 2009, S. 101–121.
2 Zur deutschen Ostsiedlung vgl. Walter Schlesinger, Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte. Reichenau Vorträge 1970 –1972, Sigmaringen 1975, S. 11–30; Charles Higounet, Die deutsche Ostsiedlung im Mittelalter, 2. Aufl., München 1990; Eike Gringmuth-Dallmer, Siedlungshistorische Voraussetzungen, Verlauf und Ergebnisse des hochmittelalterlichen Landesausbaus im östlichen Deutschland, in: Werner Rösener (Hg.), Grundherrschaft und bäuerliche Gesellschaft im Hochmittelalter, Göttingen 1995, S. 320 –358; Robert Bartlett, Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Eroberung, Kolonisation und kultureller Wandel von 950 bis 1350, München 1998; Felix Biermann, Archäologische Studien zum Dorf der Ostsiedlungszeit. Die Wüstungen Miltendorf und Damsdorf in Brandenburg und das ländliche Siedlungswesen des 12. bis 15. Jahrhunderts in Ostmitteleuropa, Wünsdorf 2010; zur Forschungs- und Rezeptionsgeschichte: Jan M. Piskorski, Die mittelalterliche Ostsiedlung. Ein alter Streit und neue Ergebnisse, in: Ferdinand Seibt/Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter (Hgg.), Transit Brügge – Novgorod. Eine Straße durch die europäische Geschichte. Ausstellungskatalog, Bottrop/Essen 1997, S. 194 –203; Jörg Hackmann/ Christian Lübke, Die mittelalterliche Ostsiedlung in der deutschen Geschichtswissenschaft, in: Jan M. Piskorski (Hg.), Historiographical Approaches to Medieval Colonization of East Central Europe. A comparative Analysis against the Background of other European inter-ethnic Colonization Processes in the Middle Ages, New York 2002, S. 179–217.
3 Zu den historischen Verhältnissen im Hevellerland vom 9. bis 12. Jahrhundert und zur Gründung der Markgrafschaft Brandenburg vgl. Herbert Ludat, An Elbe und Oder um das Jahr 1000. Skizzen zur Politik des Ottonenreiches und der slawischen Mächte in Mitteleuropa, Köln/Wien 1971, sowie Lutz Partenheimer, Die Entstehung der Mark Brandenburg. Mit einem lateinisch-deutschen Quellenanhang, Köln 2007, und die Beiträge bei Müller/Neitmann/ Schopper, Wie die Mark entstand (wie Anm. 1); zur Archäologie: Donat Wehner, Das Land Stodor. Eine Studie zu Struktur und Wandel der slawenzeitlichen Siedlungsräume im Havelland und in der nördlichen Zauche, Rahden 2012.
4 Uta Lehnert, Der Kaiser und die Siegesallee. Réclame Royale, Berlin 1998, S. 102 f., 106.
5 Zur Forschungsgeschichte vgl. Felix Biermann, Berliner und Brandenburger Beiträge zur Slawenforschung von überregionaler Bedeutung, in: Jörg Haspel/Wilfried Menghin (Hgg.), Miscellanea Archaeologica III. Berlin und Brandenburg. Geschichte der archäologischen Forschung, Petersberg 2006, S. 267–276.; mit vielen Bezügen auf den ganzen mittel- und ostdeutschen Raum inklusive Brandenburgs: Susanne Grunwald, Burgwallforschung in Sachsen. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der deutschen prähistorischen Archäologie zwischen 1900 und 1961, Bonn 2019.
6 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 4. Teil, Riga 1791, hier verwendet: ND Berlin 2013, S. 515 –518 [16. Buch, IV. Abschnitt].
7 Vgl. zum Beispiel Sebastian Brather, Slawenbilder. »Slawische Altertumskunde« im 19. und 20. Jahrhundert. Archeologické rozhledy 53 (2001), 717–751; Hackmann/Lübke, Die mittelalterliche Ostsiedlung (wie Anm. 2); Biermann, Archäologische Studien (wie Anm. 2), S. 17–27.
8 Joachim Herrmann, Tornow und Vorberg. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Lausitz, Berlin 1966; Ders., Die germanischen und slawischen Siedlungen und das mittelalterliche Dorf von Tornow, Kr. Calau, Berlin 1973.
9 Vgl. Joachim Henning, Germanen – Slawen – Deutsche. Neue Untersuchungen zum frühgeschichtlichen Siedlungswesen östlich der Elbe, in: Prähistorische Zeitschrift 66 (1991), S. 119 –133; Ders., Archäologische Forschungen an Ringwällen in Niederungslage: die Niederlausitz als Burgenlandschaft des östlichen Mitteleuropas im frühen Mittelalter, in: Ders./Alexander T. Ruttkay (Hgg.), Frühmittelalterlicher Burgenbau in Mittel- und Osteuropa, Bonn 1998, S. 9 –30; Felix Biermann, Slawische Besiedlung zwischen Elbe, Neiße und Lubsza. Archäologische Studien zum Siedlungswesen und zur Sachkultur des frühen und hohen Mittelalters, Bonn 2000, S. 281–290.
10 Joachim Herrmann (Hrsg.), Die Slawen in Deutschland. Geschichte und Kultur der slawischen Stämme westlich von Oder und Neiße vom 6. bis 12. Jahrhundert. Ein Handbuch. Neubearbeitung, Berlin 1985, S. 377– 442.
11 Vgl. zur ›Germania Slavica‹: Wolfgang H. Fritze, Germania Slavica. Zielstellung und Arbeitsprogramm einer interdisziplinären Arbeitsgruppe, in: Ders. (Hg.), Germania Slavica, Bd. 1, Berlin 1980, S. 11– 40; Ders., Die Begegnung von deutschem und slawischem Ethnikum im Bereich der hochmittelalterlichen Ostsiedlung, in: Siedlungsforschung. Archäologie, Geschichte, Geographie 2 (1984), S. 187–219. Sebastian Brather/Christine Kratzke (Hgg.), Auf dem Weg zum Germania Slavica-Konzept. Perspektiven von Geschichtswissenschaft, Archäologie, Onomastik und Kunstgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, Leipzig 2005.
12 Vgl. hierzu Felix Biermann, Konfrontation zwischen Einheimischen und Zuwanderern bei der deutschen Ostsiedlung des Mittelalters, in: Oliver Auge/Felix Biermann/Matthias Müller/ Dirk Schultze (Hgg.), Bereit zum Konflikt. Strategien der Konflikterzeugung und Konfliktbewältigung im Mittelalter, Ostfildern 2008, S. 131–172.
13 Siehe Felix Biermann, Der Burgwall von Fergitz (Uckermark) und die Inselsiedlungen der Slawenzeit im brandenburgischen Raum, in: Ders./Karl Uwe Heussner (Hrsg.), Historische Gewässernutzung im nordostdeutschen Gebiet. Archäologische und geographische Perspektiven, Bonn 2016, S. 27– 144, hier S. 43– 46.
14 Zur Archäologie der Slawen in Brandenburg zuletzt: Felix Biermann/Thomas Kersting, Archäologie der Slawenzeit seit der Wende, in: Michael Meyer/Franz Schopper/Matthias Wemhoff (Hgg.), Feuerstein, Fibel, Fluchttunnel. Archäologie in Berlin und Brandenburg seit der Wende, Wünsdorf 2017, S. 101–120.
15 Vgl. Henning, Germanen – Slawen – Deutsche (wie Anm. 9); Ders., Archäologische Forschungen (wie Anm. 9); Biermann, Slawische Besiedlung (wie Anm. 9).
16 Zu Sagen mit wendischem Bezug aus Brandenburg vgl. zum Beispiel Wilhelm Schwartz, Sagen und alte Geschichten der Mark Brandenburg für Jung und Alt, Berlin 1871, oder – für die Niederlausitz – Erich Schneider, Sagen der Lausitz, Bautzen 1962 (mit zahlreichen jüngeren Auflagen); touristische Einrichtungen, die den Namen »Wendenkönig« führen, gibt es unter anderem in Burg im Spreewald und Prenzlau, ein neuerer historischer Roman aus der Brandenburger Slawenzeit ist beispielsweise Maren Ohlsen, Mein oder Dein – das ist hier die Frage. Eine Zeitreise in die Welt der Slawen, Wünsdorf 2014; zur Stadtführung in Brandenburg: https://www.reiseland-brandenburg.de/poi/havelland/stadtfuehrungen/stadtfuehrungen-mit-ute-schulze/?no_cache=1 [zuletzt: 28.08.2021].
17 Vgl. https://www.slawendorf-brandenburg.de/ [zuletzt: 28.08.2021] und https://www.heimatmuseum-dissen-spreewald.de/index.php?de_freilichtmuseum [zuletzt: 28.08.2021].
18 Thomas Kersting, Der Einbaum von Ziesar, in: Felix Biermann/Thomas Kersting/Anne Klammt (Hgg.), Soziale Gruppen und Gesellschaftsstrukturen im westslawischen Raum, Langenweißbach 2013, S. 451– 456; Hans-Joachim Behnke/Elke Kaiser/Christof Krauskopf/ Franz Schopper (Hgg.), Schwimmendes Holz. Der Nachbau des slawenzeitlichen Einbaums aus Ziesar, Wünsdorf 2018.
19 Vgl. Biermann/Kersting, Archäologie der Slawenzeit (wie Anm. 14), S. 109 f.
20 Vgl. zum Beispiel Bettina Jungklaus, Die spätslawische Bevölkerung von Wusterhausen. Eine anthropologische Rekonstruktion der Lebensbedingungen, in: Felix Biermann/Franz Schopper (Hgg.), Ein spätslawischer Friedhof mit Schwertgräbern von Wusterhausen an der Dosse, Wünsdorf 2012, S. 116 –134; Dies., Ein Beitrag zur Ernährung der Westslawen. Ergebnisse paläontologischer Untersuchungen an Skeletten des 10. bis 13. Jahrhunderts aus Nordostdeutschland, in: Biermann/ Kersting/Klammt, Soziale Gruppen und Gesellschaftsstrukturen (wie Anm. 18), S. 203–210.
21 Vgl. zum Beispiel Felix Biermann, Im Kampf verloren. Ein Schwert aus dem slawischen Burgwall Schönfeld (Uckermark), in: Martina Aufleger/ Petra Tutlies (Hgg.), Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Festschrift für Jürgen Kunow, Bonn 2018, S. 539–546.
22 Zum Sklavenhandel im westslawischen Raum vgl. Joachim Henning, Gefangenenfesseln im slawischen Siedlungsraum und der europäische Sklavenhandel vom 6. bis 12. Jahrhundert. Archäologisches zum Bedeutungswandel von »sklābos – sakāliba – sclavus«, in: Germania. Anzeiger der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts 70 (1992), S. 403– 426; Ders., Strong Rulers – Weak Economy? Rome, the Carolingians and the Archaeology of Slavery in the first Millenium AD, in: Jennifer R. Davis/Michael McCormick (Hgg.), The long Morning of Medieval Europe. New Directions in Early Medieval Studies, Aldershot 2008, S. 33–53.
23 Vgl. zu solchen Funden Biermann/Kersting, Archäologie der Slawenzeit (wie Anm. 14), S. 117–119.
24 Allgemein: Dietrich Kurze, Das Mittelalter. Anfänge und Ausbau der christlichen Kirche in der Mark Brandenburg (bis 1535), in: Ders., BerlinBrandenburgische Kirchengeschichte im Mittelalter. Neun ausgewählte Beiträge, hgg. v. Marie-Luise Heckmann/Susanne Jenks/Stuart Jenks, Berlin 2002, S. 1–110; zu den Klöstern vgl. auch die entsprechenden Beiträge in Heinz-Dieter Heimann/Klaus Neitmann/Winfried Schich (Hgg.), Brandenburgisches Klosterbuch. Handbuch der Klöster, Stifte und Kommenden bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, 2 Bde., Berlin 2010.
25 Dank gilt Dr. Katrin Frey (Prenzlau) sowie Prof. Dr. Benno Biermann (Wenholthausen) für wertvolle Hinweise zum Manuskript sowie Prof. Dr. Matthias Asche (Potsdam) für die Anregung zu diesem Aufsatz.
Abbildungsnachweis
Abb. 1, 3-5 Autor.
Abb. 2 Farbzeichnung von Ottilie Blum.
Der Beitrag erschien in:
Asche, Matthias / Czech, Vinzenz / Göse, Frank / Neitmann, Klaus (Hrsg.): Brandenburgische Erinnerungsorte - Erinnerungsorte in Brandenburg. Band 1 (= Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V., Band 24). Berlin 2021, S. 39-49.