Reformationstag

Mathis Leibetseder

Wie in einer Reihe anderer Bundesländer ist der Reformationstag im Land Brandenburg gegenwärtig ein Feiertag. Das Datum erinnert an den Thesenanschlag Martin Luthers am 31. Oktober 1517. Unabhängig davon, ob dieser nun tatsächlich mit Hammer und Nagel an der Wittenberger Schlosskirchenpforte getätigt wurde, dienen Datum und Aktion bis heute als Ausgangspunkt für Reformation und Konfessionalisierung, als ›geschichtliche Narrative‹. Da dieser Feiertag vor allem in Bundesländern mit protestantisch geprägter Vergangenheit existiert, wird ein enger Konnex zwischen Konfession und Region landespolitisch wohl vorausgesetzt, ja vielleicht sogar gewünscht – unabhängig davon, wie stark die Bevölkerung gegenwärtig konfessionell oder kirchlich gebunden ist. Dies trifft gerade auch auf das Bundesland Brandenburg zu.

Im Land Brandenburg sind nach dem Zensus von 2011 21,2 % der Einwohner in christlichen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften mit Körperschaftsrecht gebunden, wobei 17,8 % auf evangelische Kirchen (Evangelischen Kirche in Deutschland und Evangelische Freikirchen) und 3,4 % auf die katholische Kirche entfallen.1 Die brandenburgischen Melderegister verzeichnen mithin eine Bevölkerungsmehrheit, die keiner der öffentlich anerkannten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften angehört. In weltanschaulich-religiöser Hinsicht dürfte diese Mehrheit äußerst heterogen sein, die neben Menschen anderer Glaubensgemeinschaften eine nicht unbeträchtliche Zahl säkularisierter Christen genauso umfasst wie religiös indifferente oder atheistisch orientierte Menschen. Diese ›Entkirchlichung‹ ist jedoch kein reines Erbe der DDR; sie setzte im Gebiet des heutigen Landes Brandenburg bereits vor 1945 ein.

Entsprechend divers fallen auch die Aktivitäten am Reformationstag aus; sie reichen von der Teilnahme an kirchlichen Festveranstaltungen über zusätzlichen Freizeitgenuss, Kurzurlaube oder die Einkaufstour ins benachbarte Berlin – hier ist der Reformationstag ein Arbeitstag – bis hin zum christlich-neuheidnisch-kapitalistischen Halloween, das breiten Bevölkerungsschichten Anknüpfungsmöglichkeiten an das Feiertagsgeschehen bietet. Dass dabei neben dem Reformationstag (31. Oktober) auch Allerheiligen (1. November) und Allerseelen (2. November) mit in den Fokus geraten, ist dabei, wie im Folgenden gezeigt wird, weniger neu, als man vielleicht meinen möchte.2

Zwei Reformationstage – Konstellationen und Referenzen im 16. Jahrhundert

Wenn hier vom Reformationstag in Brandenburg als Erinnerungsort gehandelt werden soll, so muss gleich zu Beginn festgehalten werden, dass es den einen Reformationstag in Brandenburg genauso wenig gibt oder gab wie in den meisten anderen Gebieten mit evangelisch geprägter Vergangenheit und/oder Gegenwart. Denn neben dem 31. Oktober, der (heute) allgemein mit der Reformation assoziiert wird, bestehen weitere Tage von (bloß) regionaler oder lokaler Relevanz – Tage, an denen in einer bestimmten Kirche in einem bestimmten Ort eine erste evangelische Predigt gehalten wurde oder an denen ein Fürst die evangelische Lehre in seinem Territorium offiziell zuließ. All diese Tage bergen das Potenzial, von lokal, regional oder auch anderweitig konstituierten Gruppen durch Wertzuschreibungen zu singulären Erinnerungsorten ausgestaltet und als solche memoriert und instrumentalisiert zu werden – mitunter auch gegen andere Reformationstage. Für Brandenburg – in seinen Ausprägungen als Kurfürstentum, Provinz und Bundesland – ist neben dem aus der allgemeinen Reformationshistorie herrührenden 31. Oktober 1517 als Bezugsdatum daher namentlich der 1. November 1539 zu betrachten – denn bis zu diesem Tag galt Kurbrandenburg als mehr oder weniger fest in die Papstkirche integriertes Territorium.

Was genau an diesen beiden Tagen geschah, ist hier nur insofern zu rekapitulieren, wie es die nachgelagerte Erinnerungskultur prägen sollte. Konstitutiv in dieser Hinsicht ist vor allem eines – nämlich, dass die historischen Akteure an beiden Tagen keinerlei Vorkehrungen trafen, ihre Handlungen medial zu kodieren, also Aufzeichnungssystemen zu überantworten und der Nachwelt so mitzuteilen, was an diesen Tagen eigentlich weshalb und unter welchen genauen Umständen geschah. Diese Beobachtung trifft einerseits auf den 31. Oktober 1517 zu; bis heute wissen wir nicht mit letzter Gewissheit, ob Luther seine 95 Thesen an diesem Tag lediglich versandte oder sie darüber hinaus – akademischen Gepflogenheiten folgend – auch mit Hammer und Nagel an die Tür der Wittenberger Schlosskirche heftete. Ähnliches lässt sich andererseits aber auch für den 1. November 1539 sagen. Bis in die unmittelbare Gegenwart hinein herrschte letztlich Ungewissheit darüber, ob Kurfürst Joachim II. die Hinwendung zum Luthertum in der Domkirche zu Cölln an der Spree oder in der Spandauer Stadtkirche beging.3 Auch die genaue Ausgestaltung dieses Gottesdienstes liegt im Dunkeln.

Ungewiss ist daher auch, ob man in der Wahl des 1. Novembers 1539 durch Joachim II. (lediglich) eine Instrumentalisierung des traditionellen Allerheiligentages zu erblicken hat oder (bereits) einen erinnerungs- beziehungsweise bekenntnispolitischen Akt, mit dem der kurbrandenburgische Hof an den 31. Oktober 1517 anknüpfte. Dass der 1. November als Tag für eine kirchenpolitische Wende in Kurbrandenburg bewusst ausgewählt wurde, geht aus einer Reihe von Schreiben aus dem Umkreis Joachims II. unzweifelhaft hervor; genauso, dass Luther selbst daran ging, den Tag der Thesenpublikation zum ›Urknall der Reformation‹ zu stilisieren; bereits zum zehnten Jahrestag leerte der Chef-Reformator einen Becher auf seine Tat: »Wittembergae die Omnium Sanctorum, anno decimo Indulgentiarum conculcatarum, quarum memoria hac hora bibimus utrinque consolati, 1527«/»Wittenberg, am Tage Allerheiligen, im zehnten Jahre der niedergetretenen Ablässe, auf deren Andenken wir in dieser Stunde beiderseits beruhigt anstoßen, 1527«.4 Damit holte Luther zumindest in kleinstem Kreise nach, was er 1517 versäumt hatte, nämlich den Tag als erinnerungswürdig zu markieren. Als Indiz eines sich in den Jahren oder Jahrzehnten nach 1517 herauskristallisierenden Interesses an diesem Tag muss auch der Thesendruck aus der Werkstatt des Leipziger Druckers Jacob Thanner betrachtet werden, der im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz überliefert ist (Abb. 1).

Am Rand des Druckes wurde von unbekannter Schreiberhand des 16. Jahrhunderts notiert: »Anno 1517 ultimo Octobris vigiliej Omnium sanctorum indulgentiej primum inpugnatej«/»Im Jahre 1517, am 31. Oktober, dem Vorabend von Allerheiligen, als der Ablass zum ersten Mal bekämpft wurde.«5 Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Abend des 31. Oktobers als Vorabend des Allerheiligentags liturgisch zum 1. November zählte, von diesem also nicht unterschieden wurde; deshalb leerte auch Luther den bereits erwähnten Becher 1527 am 1. November. Durch den handschriftlichen Vermerk auf Thanners Thesendruck wurde der undatierte Druck so nicht nur nachträglich datiert, sondern auch das Bedürfnis an einer genauen zeitlichen Einordnung des Drucks bekundet.

Dennoch blieb das Reformationsgedenken auch in der Mark Brandenburg zunächst noch fluide. Dies zeigt beispielhaft Peter Hafftiz mit seiner in den letzten beiden Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts nach älteren Vorlagen verfassten Chronik. Dem in Berlin-Cölln tätigen Schulmann zufolge – frühere Belege fehlen – veranstaltete Joachim II. am Mauritiustag (22. September) 1565 in der Doppelstadt an der Spree erstmals ein »Festum gratiarum actionis […] zur dancksagung, dass der almechtige Gott Ihn vnd seine Vnterthanen mit dem rechten verstande seines worts vnd gebrauch der hochwirdigen Sacramenten begnadet« und schließt seine Darstellung der Feierlichkeiten mit der Bemerkung: »Dis hat er Jährlich für vnd für bis zu seinem absterben also halten, Darnach ists gefallen.«6 Bedenkt man die Wahl des Jahrestages – der Heilige Mauritius zählte zu den Schutzpatronen des Domstifts zu Cölln an der Spree, das Magdeburger Reliquiar mit dem Haupt des Heiligen befand sich seit 1561 im Dom –, so war damit womöglich aber eher ein Anknüpfen an die Tradition der Kirchweihfeste als die Begründung eines genuinen Reformationsgedenkens intendiert. Zudem wurde dieses Fest wohl ausschließlich in der Residenzstadt und nicht im gesamten Kurfürstentum begangen. Insofern könnte es sich bei der konfessionellen Aufladung der Dankfeste also auch um eine literarische Leistung des Peter Hafftiz handeln – eine durchaus wirkmächtige, denn seit dem 18. Jahrhundert gehört das Festum gratiarum actionis konstant zum kaum einmal infrage gestellten Arsenal der Landes- und Reformationsgeschichte.7

Kurfürst und Klerus – Akteure und Strategien im 17. Jahrhundert

Betrieb Hafftiz also Traditionserfindung, indem er das Reformationsgedenken in die jüngere Vergangenheit rückprojizierte? Bedenkt man, dass sich die protestantische Erinnerungskultur gegen Ende des Reformationsjahrhunderts, also zu Hafftiz’ Lebzeiten, stärker auszuformen begann, ist dies durchaus möglich. Als 1617 der hundertste Jahrestag des Reformationsbeginns bevorstand, spielte Kurbrandenburg dabei allerdings eine bestenfalls untergeordnete Rolle. Wohl nur aus pastoraler Eigeninitiative wurde das Jubiläum hie und da begangen – etwa durch den Prenzlauer Pfarrer und Superintendenten Johannes Finck, der Danksagungen »für die gnedige rettung aus dem finsteren Bapstum« anordnete.8 Zu einer Aneignung des Reformationsgedenkens durch die Hohenzollern-Dynastie kam es auch in den folgenden beiden Jahrhunderten nicht – auch nicht, nachdem Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen über den Vorsitz im Corpus Evangelicorum – der Organisationsform der evangelischen Reichsstände auf den Reichstagen – ab 1667 den 31. Oktober als Gedächtnistag in den protestantischen Territorien des Heiligen Römischen Reichs fest zu etablieren versuchte. Neben der dynastischen Rivalität mit Kursachsen wirkte sich nicht zuletzt die Konfession der brandenburgischen Kurfürsten hemmend auf die Verfestigung des Reformationsgedenkens in Brandenburg-Preußen aus; denn seit 1613 gehörten die brandenburgischen Kurfürsten wie später auch die preußischen Könige eben nicht der lutherischen, sondern der reformierten Konfession an, die auf der Lehre des franko-helvetischen Theologen Jean Calvin gründete. Mit den Gebietserwerbungen infolge des Jülisch-Klevischen-Erfolgestreits (1609–1614) und des Westfälischen Friedens (1648) fielen den Kurfürsten auch Territorien mit katholischen Einrichtungen und Bevölkerungsanteilen zu. Brandenburg-Preußen wurde damit endgültig zum »mehrkonfessionellen Landesstaat«9, in dem alle drei reichsrechtlich anerkannten Konfessionen vertreten waren.

Diese Tatsache machte das Reformationsgedenken in Brandenburg bereits im Laufe des 17. Jahrhunderts zu einem Gegenstand partikularer Interessen und Projekte. So begingen die lutherischen Pfarrer des vom – ebenfalls lutherischen – Schweden besetzten Berlin-Cölln 1639 den hundertsten Jahrestag des Reformationsbeginns unter Kurfürst Joachim II. und den Thesenanschlag am 31. Oktober mit einer Doppelfeier. Predigten, die damals erschienen, folgten bei allen Differenzen doch dem gemeinsamen Darstellungsziel, die Gedächtnistage vom 31. Oktober 1517 und vom 1. November 1539 möglichst eng aufeinander zu beziehen und Joachim II. als Werkzeug Gottes erscheinen zu lassen.10 Die Spitze gegen Kurfürst Georg Wilhelm, der im Verdacht stand, die reformierte Konfession in der Mark Brandenburg allgemein durchsetzen zu wollen, ist dabei kaum zu übersehen. Die Doppelfeier brachte so »ein beachtliches Oppositionspotential unter den Geistlichen«11 zum Vorschein.

Auch am zweihundertsten Reformationsjubiläum zeigte die Krone Preußens nur geringes Interesse. Bereits im Februar 1716 versuchte der preußische Hofprediger Daniel Ernst Jablonski, den König für eine gemeinsam mit England initiierte, gesamteuropäische protestantische Kirchenunion zu begeistern, die am Reformationstag 1717 Realität werden sollte. Zumindest für einen Theologen vom Schlage eines Jablonski blieb der Erinnerungsort mithin Ansporn und Inspirationsquelle. Der Plan scheiterte jedoch an Abstimmungsproblemen mit dem englischen Königshof. Auch kirchliche Mittelinstanzen mobilisierte das bevorstehende Jubiläum; nach einem Gesuch des Magdeburger Konsistoriums wurde eine Ordnung für Feierlichkeiten ausgearbeitet, die am 31. Oktober 1717 in sämtlichen lutherischen Kirchen des Königreichs durchgeführt werden sollten.12 Ausdrücklich ausgenommen blieben die evangelisch-reformierten Kirchen, da diese »diversae religionis«13 waren. Wohl nicht zuletzt deshalb blieb der König selbst eher indifferent. An Bestrebungen auf Reichsebene, einheitliche Gedenkformen für das Jubiläum zu entwickeln, beteiligte sich der mittlerweile mächtigste protestantische Reichsstand nicht – und verurteilte entsprechende Pläne damit zum Scheitern.14 1739 wurde der nun schon kranke König wiederum verwaltungsseitig – diesmal durch das Geistliche Ministerium – auf das bevorstehende Jubiläum des »Uebergangs der Mark Brandenburg zur Kirchenreformation«15 aufmerksam gemacht. Auch diesmal wurden kirchliche Feiern in ganz Preußen angeordnet, allerdings wegen des schlechten Gesundheitszustands Friedrich Wilhelms I. vom 1. November vorgezogen auf den 31. Mai 1739.

Historiker, Künstler, Bürger – Neue Akteure, neue Strategien im 18. und 19. Jahrhundert

Bis dato hatte sich der Reformationstag als Erinnerungsort in seiner kurbrandenburgischen Variante an der Schnittstelle konfessions- und kirchenpolitischer Demarkationslinien herauskristallisiert. Neben den Pfarrern und Theologen einerseits und dem Landesherrn mit seinem Verwaltungsapparat andererseits gab es aber kaum andere gesellschaftliche Kräfte, die an der Ausgestaltung des Reformationstags zum Erinnerungsort wesentlich mitwirkten, und es ist auch keine nennenswerte Anteilnahme oder Mobilisierung der Bevölkerung erkennbar. Indes trat im Laufe des 18. Jahrhunderts eine neue Interessengruppe auf den Plan: nämlich die der professionellen Historiker. Gestützt auf die verschiedenen verfügbaren Quellengattungen ergründeten sie seit dem 18. Jahrhundert das lokale beziehungsweise regionale Geschehen, um es in die reformationsgeschichtliche ›Meistererzählung‹ einzufügen. Indem die Historiographen mit einem Anspruch auf Breitenwirksamkeit jenseits ihrer engeren ›scientific community‹ auftraten, forderten sie die alleinige Deutungshoheit der bisherigen Akteure heraus und regten den Geltungsdrang kommunaler Bildungseliten an. Im Spannungsfeld von Royalismus, Nationalismus und Regionalismus (Lokalpatriotismus) wurde der Reformationstag nun erst recht eigentlich zum allgemein verfügbaren Erinnerungsort.

Mit dem Auftreten der Historiker wandelte sich auch die mediale Repräsentation des Erinnerungsortes. War dieser bislang in erster Linie rein performativ, das heißt durch Formen der Vergegenwärtigung im Rahmen von terminierten Festgottesdiensten begangen worden, trat nun die via Text und Bild jederzeit abrufbare geschichtliche (Re-)Konstruktion in den Vordergrund. Als mnemotechnisch besonders einschneidend muss dabei die visuelle Kodierung angesehen werden, wie sie seit dem 18. Jahrhundert für den Gottesdienst Joachims II. am 1. November 1539 einsetzte. Eine erste bildliche Gestaltung schuf der Kupferstecher und Verleger Johann David Schleuen für die 1762 erschienene »Allgemeine Preußische Staats-Geschichte« des Historikers Carl Friedrich Pauli (Abb. 2).16

Der Kupferstich zeigt Kurfürst Joachim II. vor dem Altar der Spandauer Stadtkirche kniend, in Begleitung einer schwer deutbaren Gruppe modisch gekleideter jugendlicher Herrschaften; von einem Bischof, wahrscheinlich Matthias von Brandenburg, empfängt der Kurfürst den Laienkelch. Schon durch die Gestaltung von Kleidung und Körperhaltung wird zeitliche Differenz abgebaut und die spezifische historische Situation in die Gegenwart geholt, was dem zeitgenössischen Publikum eine Identifikation mit dem Dargestellten erleichtert haben mag.

Weitere Darstellungen folgten bis hin zu Carl Röhlings bekanntem Gemälde von 1913 in der Spandauer St. Nikolai-Kirche. Von seiner Suggestivkraft hat dieses Gemälde bis heute nichts verloren: Sinnfällig verortete es den Allerheiligengottesdienst 1539 im Spandauer Setting und bekräftigte damit lokalpatriotische Kreise in ihrem Bestreben, Spandau eine herausgehobene Rolle in der kurbrandenburgischen Reformationsgeschichte zu sichern. Entsprechende Bemühungen reichten bis ins 18. Jahrhundert zurück; bereits 1739 war Spandau mit der Publikation von drei Jubelpredigten hervorgetreten und kultivierte auch danach eine auf lokale Geschehnisse bezogene Erinnerungskultur. Im 19. Jahrhundert bildete sich dann eine Allianz lokaler Akteure und Historiker, welche schließlich sogar die Dynastie für ihre Lesart des Reformationstags gewinnen konnten. Gegenüber jenen Kräften, welche den Allerheiligengottesdienst 1539 im Berliner Dom zu lokalisieren suchten, hatten sie den unschlagbaren Vorteil, dass sich St. Nikolai als authentischer Ort präsentieren ließ – im Gegensatz zum 1747 abgetragenen Dom auf der Berliner Spreeinsel. Paradoxerweise bedurfte aber auch dieser als authentisch angesehene Ort weiterer visueller Beglaubigungsstrategien, welche der Bildhauer Erdmann Encke mit seinem zum 350. Reformationsjubiläum 1889 im Beisein des Kaisers enthüllten Denkmal für Joachim II. beispielhaft bediente. Das Monument zementierte die Auffassung, Joachim habe erstmals in Spandau die Kommunion in beiderlei Gestalt empfangen. Steine sagen mehr als tausend Worte.

Stärker als reine Textmedien waren Bildwerke aber auch dazu in der Lage, historische Konzepte und Narrative zu popularisieren – und diese Popularisierung ging mit der Popularisierung der Hohenzollern-Dynastie Hand in Hand, wie sie aus der Napoleonischen Zeit und den Befreiungskriegen resultierte. Trotz des Beharrens auf ihr Gottesgnadentum musste das Verhältnis von Monarchie und Bevölkerung neu justiert werden, die Dynastie musste auch die Herzen der Menschen erobern. Als zum 300. Reformationsjubiläum im Königreich Preußen die Union der evangelisch-reformierten und der evangelisch-lutherischen Kirchen verwirklicht wurde, warb König Friedrich Wilhelm III. für den freiwilligen Charakter dieser Verbindung; nicht unter Zwang, sondern aus »der Freiheit eigener Überzeugung« sollten sich Lutheraner und Reformierte zusammentun, und zwar nicht nur »in der äußeren Form«, sondern auch »in der Einigkeit der Herzen, nach echt biblischen Grundsätzen«.17 Der König selbst empfing am Reformationstag die Kommunion in der Garnisonkirche zu Potsdam, einer lutherisch-reformierten Simultankirche, in Begleitung von Hofleuten und Mitgliedern der Garnison. Überhaupt erreichte die dynastisch-staatliche Indienstnahme des Reformationstags in Brandenburg beziehungsweise Preußen im überregionalen Jubiläumsjahr 1817 – und dann noch einmal im regionalen Jubiläumsjahr 1839 – später nicht mehr erreichte Höhepunkte. Wohl nie wieder fielen die Feierlichkeiten so aufwändig aus wie damals.

Diese Feierlichkeiten wurden jedoch nicht allein von staatlich-dynastischen Bestrebungen getragen, sondern fanden auch in kommunalen Initiativen Widerhall. So beauftrage 1839 etwa die Stadt Berlin den Hofmedailleur Christoph Carl Pfeuffer mit der Anfertigung einer Gedenkmünze, die den ersten, auf den 2. November 1539 datierten Berliner Gottesdienst mit Abendmahl in beiderlei Gestalt darstellt (Abb. 3 und 4).

Die Münze präsentiert auf der Vorderseite in Jugate-Stellung die Profil-Brustbilder Joachims II. und Friedrich Wilhelms III., wodurch der König des 19. Jahrhunderts visuell in die Tradition des Kurfürsten des 16. Jahrhunderts gerückt wird. Derartig gestaffelte Darstellungen von Profil-Brustbildern sind auf Münzen seit der Renaissance, letztlich seit der Antike bekannt und beliebt. Dennoch war kein Hohenzoller des 17. oder 18. Jahrhunderts auf die Idee gekommen, sich auf diese Weise ikonografisch auf Joachim II. zu beziehen. Die Rückseite evoziert die erwähnte Abendmahls-Situation 1539 mitsamt einer höchst spekulativen Anwesenheit des Kurfürsten. Eine derartig enge Liaison zwischen Dynastie und Reformationsbeginn war nur über den 1. November möglich; die Wittenberger Geschehnisse des 31. Oktober 1517 boten den Hohenzollern dagegen keinerlei Anknüpfungspotential.

Feiertag und Freizeitkultur – Institutionalisierung im 20. Jahrhundert

Wie eng letztlich gerade der brandenburgische Reformationstag am 1. November 1539 mit den Geschicken der Hohenzollern-Dynastie verknüpft war, sollte sich erst nach dem Ersten Weltkrieg erweisen: Nach der Abdankung des Kaisers starb dieser Erinnerungsort nämlich einen stillen Tod. Die Amalgamierung von Dynastie, Ort und Ereignis zu einem protestantisch-patriotischen Gesamtszenario war nun offenbar weitgehend obsolet. Auch in der Mark Brandenburg wurde die Erinnerungskultur nun allein und endgültig auf das transregional anschlussfähige Datum gepolt, also auf den 31. Oktober 1517. Allerdings war dieser Tag weder vor noch nach 1918 in Preußen oder Brandenburg ein gesetzlicher Feiertag gewesen – im Gegensatz zum Königreich Sachsen, wo dies schon seit dem 19. Jahrhundert der Fall war. Kirchlich gefeiert wurde die Reformation in Preußen daher auch nicht am 31. Oktober, sondern am Sonntag nach dem 31. Oktober. Nur in Schulen gab es am Gedenktag selbst ein ausgeprägtes Festwesen.

Dies änderte sich erst mit dem Gesetz über die Feiertage vom 27. Februar 1934, als die nationalsozialistische Reichsregierung den Reformationstag in §5, Abs. 1 »in Gemeinden mit überwiegend evangelischer Bevölkerung« zum Feiertag erklärte. Dies geschah weniger aus Wertschätzung Martin Luthers oder der Reformation denn als Ausgleich dafür, dass man den Katholiken den Fronleichnamstag als Feiertag zugestand; der Reichsminister des Innern argumentierte dabei, der Reformationstag werde »von evangelischen Kreisen als Tag der ecclesia triumphans empfunden«.18 Diese Regelung blieb prinzipiell zunächst auch nach dem Zweiten Weltkrieg in Kraft. Mit dem SMAD-Befehl Nr. 361 vom 27. Dezember 1946 wurden die gesetzlichen Feiertage für die Sowjetische Besatzungszone bestätigt beziehungsweise festgelegt. Die Verfassung des Landes Brandenburg vom 31. Januar 1947 ordnete die Arbeitsruhe an »gesetzlich anerkannten Feiertage[n]« (Artikel 7) an.19 Auch nach der Abschaffung der Länder 1952 blieb der Reformationstag in allen Bezirken außer Magdeburg, Halle und Berlin Feiertag, fiel dann aber 1967 – also ausgerechnet zum 450. Reformationsjubiläum – der Einführung der Fünf-Tage-Woche zum Opfer. Die Evangelische Kirche der DDR beging das Reformationsgedenken danach meist wieder in altpreußischer Tradition am Sonntag nach dem 31. Oktober.

Während der friedlichen Revolution in Ostdeutschland verhandelte zunächst die Regierung Modrow mit der evangelischen Kirche über die Wiedereinführung der abgeschafften kirchlichen Feiertage, wie Oberkirchenrat Martin Ziegler den Zentralen Runden Tisch am 3. März 1990 in seiner Eigenschaft als Moderator wissen ließ. Beschlossen wurde die Wiedereinführung jedoch erst nach der ersten freien Volkskammerwahl durch die Regierung de Maizière am 16. Mai 1990.20 Per Einigungsvertrag wurden die kirchlichen Feiertage schließlich für die neuen Bundesländer übernommen. Eine besondere Instrumentalisierung des Reformationstages als Erinnerungsort ist in diesen Zusammenhängen kaum mehr erkennbar, kann allerdings ganz allgemein sowohl mit der Neubewertung Luthers durch die DDR-Führung seit 196721 einerseits und der Rolle der evangelischen Kirche in der Revolution von 198922 andererseits in Verbindung gebracht werden. Der 450. Jahrestag des Allerheiligen-Gottesdienstes 1539 dürfte dagegen keine Rolle gespielt haben. Immerhin erinnerte man sich in West-Berlin an ihn. Die Bundespost legte eine Sondermarke auf – mit der in West-Berlin befindlichen Spandauer Nikolaikirche als Motiv.

In jüngster Zeit wird der Reformationstag in brandenburgischen Kirchen nicht nur für Gedenkgottesdienste genutzt, sondern auch zur offiziellen Übergabe von Gebäuden oder Inventarbestandteilen nach vollendeter Instandsetzung. So wurde etwa der wiederaufgebaute Fürstenwalder Dom St. Marien am 31. Oktober 1995, die neue, mit Bürgerspenden restaurierte Orgel am 31. Oktober 2005 eingeweiht. Auf diese Weise knüpfen brandenburgische Gemeinden an eine bereits im 19. Jahrhundert verbreitete Praxis an; die neue Orgel der Prenzlauer St. Marien-Kirche wurde 1845 nach Restaurierung und Einbau ebenfalls am Reformationstag neu geweiht. Damals wie heute sucht der Reformationstag als Feiertag eine Brücke zwischen dem transregionalen konfessionellen Erinnerungsort einerseits und lokalen Identitäten und Lebenswelten andererseits zu schlagen, wobei die spezifisch brandenburgische Reformationshistorie mittlerweile meist ausgeblendet bleibt. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sich der Gebietsstand des heutigen Bundeslands Brandenburg mit der historischen Mark Brandenburg nur bedingt deckt.

Ein zusätzliches Revival erfährt der Reformationstag gegenwärtig durch die Vermarktung Brandenburgs als Reiseland; so empfahl die Tourismus-Marketing Brandenburg GmbH 2019 in einer Pressemitteilung, am Reformationstag zu »500 Jahre Kanzelstreit zu Jüterbog« in die Stadt im Fläming zu fahren – gerne auch per Fahrrad – oder wahlweise ein »Reformationsspiel« in Luckau, eine aktuelle Sonderausstellung in Bad Wilsnack oder das Museum Mühlberg 1547 in der ehemaligen Propstei des Zisterzienserklosters zu besuchen.23 Der Reformationstag bietet dabei jedoch lediglich den Anlass zum Besuch von Zielen mit reformationszeitlichen Bezügen, zur Vergegenwärtigung oder Reformulierung des Reformationstages als spezifischem Erinnerungsort kommt es dagegen kaum einmal. Der Erinnerungsort öffnet damit mehr denn je das Tor zu einer entfernten und im Wesentlichen fremd erscheinenden Vergangenheit, die ihren Ort in der gegenwärtigen Gedenk- und Freizeitkultur findet. Hier verfängt auch die anfangs bereits erwähnte Überblendung des Reformationstages mit dem aus dem angelsächsischen Bereich importierten, vielfach aber vom 1. November auf den 31. Oktober vorgezogenen Halloween-Fest. »Viele Kinder feiern lieber ›Halloween‹«, ließ etwa RBB24 seine Leser 2019 wissen, während andere »Gruselspaß im ganzen Land«24 versprachen. Mittlerweile wird der Halloween-Spaß auch von kirchlichen Kräften weniger bekämpft als instrumentalisiert, was auch dem Erinnerungsort Reformationstag das Überleben sichern mag. Wie dieser Trend auf ihn zurückwirkt, bleibt abzuwarten.

Anmerkungen

1 Zensus 2011: Religionszugehörigkeit in den Ländern Berlin und Brandenburg, veröffentlicht vom Amt für Statistik Berlin-Brandenburg; https:// www.statistik-berlin-brandenburg.de/zensus/auswertungsblaetter/ 08_Religion_BBB.pdf [zuletzt: 31.03.2021].

2 Mathis Leibetseder, Kurfürst und Konfession. Der Gottesdienst vom 1. November 1539 als Teil kurfürstlicher Positionierungen im religiösen Feld des 16. Jahrhunderts, in: Frank Göse (Hg.), Reformation in Brandenburg. Verlauf, Akteure, Deutungen, Berlin 2017, S. 93–112, hier S. 102.

3 Ebd.

4 Luther an Nikolaus von Amsdorf, 01.11.1527; D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe [Weimarer Ausgabe], Abt. 4: Briefwechsel, Bd. 4, Weimar 1933, Nr. 275, S. 25 –27.

5 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), I. HA GR, Rep. 13 Religionsstreitigkeiten im Reich, Nr. 4 –5a, Fasz. 1.

6 Peter Hafft, Microcronicum Marchicum, hier zit. nach Adolph Friedrich Johann Riedel (Hg.), Codex diplomaticus Brandenburgensis. Sammlung der Urkunden, Chroniken und sonstigen Quellenschriften für die Geschichte der Mark Brandenburg und ihrer Regenten, Berlin 1862, S. 46 –157, hier S. 123.

7 Johannes Schultze, Die Mark Brandenburg, Bd. 4, Berlin 1964 [ND Berlin 2011], S. 57.

8 Heinrich Kaak (Hg.), Die Prenzlauer Chronik des Pfarrers Christoph Süring 1105 –1670, Berlin 2017, S. 101.

9 Klaus Neitmann (Hg.), Vom ein- zum mehrkonfessionellen Landesstaat. Die Religionsfrage in den brandenburgisch-preußischen Territorien vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert, Berlin 2021.

10 Jubilaeum Evangelico-Marchicum Berlinense. Berlinische Jubel-Predigten Uber Des Allerhöchsten Gottes häuptgrossen Gnadenwerck, der heilsamen Kirchen-Repurgation, von Päbstischen Grewlen […], Berlin 1640.

11 Gerhard Besier, Reformationsfeiern in der Mark Brandenburg vom 17.–20. Jahrhundert als Spiegel der Rezeption, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 58 (1991), S. 134 –153, hier S. 134 f.

12 Christian Otto Mylius (Hg.), Corpus Constitutionis Marchicarum, I. Theil, II. Abtheilung, Berlin 1737, Sp. 213–218.

13 Zit. nach Friedrich Loofs, Die Jahrhundertfeier der Reformation an den Universitäten Wittenberg und Halle 1617, 1717 und 1817, in: Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte der Provinz Sachsen 14 (1917), S. 1– 68, hier S. 41, Anm. 3.

14 Harm Cordes, Hilaria evangelica academia. Das Reformationsjubiläum von 1717 an den deutschen lutherischen Universitäten, Göttingen 2006, S. 24 – 25 u. S. 28.

15 Zitiert nach Ernst Breest, Die Reformation in der Mark Brandenburg. Ihr Kampf und ihr Sieg, Berlin 1889, S. 4.

16 Kupferstich von Johann David Schleuen mit der Einnahme des Abendmahls in beiderlei Gestalt durch Kurfürst Joachim II., in: Carl Friedrich Pauli, Allgemeine preußische Staats-Geschichte, Bd. 3, Halle 1762, S. 3.

17 Kabinettsordre vom 27.09.1817, hier zit. nach Ernst Rudolf Huber/Wolfgang Huber (Hgg.), Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1, Darmstadt 2014, S. 576 –578, hier S. 577.

18 Karl-Heinz Minuth (Bearb.), Die Regierung Hitler. Teil I: 1933/34, Band 2: 12. September 1933 bis 27. August 1934. Dokumente Nr. 207 bis 384 (Akten der Reichskanzlei. Regierung Hitler 1933–1938), Boppard 1983, S. 1126, Nr. 302

19 Verfassung für die Mark Brandenburg vom 31. Januar 1947 (Verordnungsblatt S. 45 ff.), in: Ernst Rudolf Huber (Hg.), Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Bd. 2, Tübingen 1951, S. 507–515, hier S. 508.

20 Verordnung über die Einführung gesetzlicher Feiertage vom 16. Mai 1990 (Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik 1990 I, S. 248).

21 Claudia Lepp, Reformationsjubiläum 1967 im geteilten Deutschland. Politische Abgrenzung und konfessionelle Annäherung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Die Beilage zur Wochenzeitschrift Das Parlament 67 (2017)/V–VII, S. 41– 46, hier S. 41– 43.

22 Konrad H. Jarausch, Die unverhoffte Einheit 1989–1990, Frankfurt am Main 1995, S. 64 –73.

23 Pressemitteilung, 28.10.2019, in: https://presse.reiseland-brandenburg.de/pressreleases/reformationstag-in-brandenburger-altstaedten-2936752 [zuletzt: 17.10.2020].

24 Halloween in Brandenburg  – Gruselspaß im ganzen Land, in: https://cityreport.pnr24-online.de/halloween-in-brandenburg-gruselspass-im-ganzenland/ [zuletzt: 17.10.2020].

Abbildungsnachweis

Abb. 1 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA GR, Rep. 13, Nr. 4-5a Fasz. 1, Scan durch Vinia Rutkowski.

Abb. 2  Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Dienstbibliothek, 14 P 2:3, Scan durch Vinia Rutkowski.

Abb. 3 + 4 Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, 18238764 (Foto: Reinhard Saczewski).

 

Der Beitrag erschien in:

Asche, Matthias / Czech, Vinzenz / Göse, Frank / Neitmann, Klaus (Hrsg.): Brandenburgische Erinnerungsorte - Erinnerungsorte in Brandenburg. Band 1 (= Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V., Band 24). Berlin 2021, S. 101-113..


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