Rathenow (Landkreis Havelland) - Stadttore und Stadtmauer
Werner Coch
Stadttore waren im Mittelalter bewachte Durchfahrtsöffnungen in der Stadtmauer, die eine privilegierte Ortschaft ringförmig als Schutzmauer umgab. In den späteren Jahrhunderten wurden die ehemaligen Wehrmauern oft als Zollmauern nachgenutzt, um Personen und Waren zu kontrollieren und die damit verbundene Einfuhr-/Verbrauchssteuer (Akzise) zu kassieren. Spätestens Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts hatte die ursprüngliche Funktion der Stadtmauer ausgedient.
Anfänge der Stadtbefestigung
Rathenow wurde 1216 erstmalig urkundlich erwähnt und kann deshalb im Jahre 2026 auf 810 Jahre seiner Geschichte zurückblicken. 1295 erhielt der Ort von den Markgrafen Otto und Conrad das Stadtrecht und gleichzeitig die Erlaubnis, die markgräfliche Burg im mittleren Kietz an Havel und Stremme abzutragen und die Steine zur Ausbesserung der Stadtmauer zu verwenden. Es muss also damals schon Anfänge einer Stadtmauer geben haben, wahrscheinlich vorwiegend aus Feldsteinen errichtet. Mit der Fertigstellung der Stadtmauer wurden auch die vier historischen Stadttore massiv ausgebaut, so das Mühlentor am Mühlendamm, das Haveltor an der Langen Brücke, das Jederitzer Tor im Norden und das Steintor im Osten. Das Burgtor als fünftes Tor wurde mit dem Abriss der Burg geschlossen, weil der Zugang zur Burg nicht mehr erforderlich war (Abb. 1).
Im Süden schloss der Weinberg, der hinter dem Stadtgraben aufragte, das Stadtgebiet ab. Außer den Stadttoren gab es einige Notpforten als Fluchtwege bei Stadtbränden sowie wirtschaftlich genutzte Pforten, z.B. die Tuchmacherpforte, um die Havelwiesen für das Bleichen der Gewebe zu erreichen, und die Ziegeleipforte, um Ziegelerde und Brennstoffe hinein- und die fertigen Ziegel zu den Schiffen im Stadtkanal hinauszutransportieren. Nach dem Chronisten Samuel Christoph Wagener wurden die Rathenower Bürger 1351 autorisiert, ihre Stadt in eine „Feste“ zu verwandeln. Die Tore erhielten höhere Türme und die Stadtmauer „Warten“, also Beobachtungstürme mit Zinnen (Wagener 1803, 172).
Eine der Warten war der Runde Turm an der Wasserpforte zwischen Steintor und Kirche, auch Böhmischer Turm genannt. Er war über 20 Fuß hoch und diente bis 1859 als Stadtgefängnis, wobei der Sanitätsrat und Kreisphysikus Dr. Carl Ruhbaum (1790-1871) schon 1838 die Aufenthaltsbedingungen im Turm für Gefangene als unzumutbar bewertet hat. Der Abriss erfolgte 1868. Auf der Stadtansicht von Matthäus Merian (um 1650) ist der Turm nicht als Rundturm zu erkennen, dafür aber auf der ältesten Stadtansicht von 1571 (Abb. 2) und auf dem Stadtplan von Friedrich Wilhelm de Néve (1720) (Abb. 3). Hinter der Stadtmauer verlief der Wehrgang für die Wachen, den im Angriffsfall auch die bewaffneten Verteidiger benutzten. Noch heute ist der Standort des Turms an der kreisförmigen Pflasterung vor dem historischen Haus Kirchgang 16 neben der Wasserpforte zu erkennen.
Trotz allem gelang es dem Erzbischof von Brandenburg, die Stadt 1394 einzunehmen und die Einwohner für zwei Jahre zu vertreiben. Ab 1419 wurden die maroden Befestigungsanlagen erneut ausgebaut und verstärkt, so dass Rathenow 1421 ein „fester Gränzort“ war (Wagener 1803, 174). Erst 1626 wurde die Stadt ein weiteres Mal erobert. Es folgten während des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) mehrere Besetzungen und Plünderungen. Eine besondere Rolle spielte die Stadtmauer mit ihren Toren im Jahre 1675, worauf an anderer Stelle noch ausführlicher eingegangen wird. Im Verlauf der weiteren Jahrhunderte verlor die Stadtmauer ihre Bedeutung als militärische Schutzeinrichtung, wurde aber noch mehrfach repariert, um sie als Einfassung des Stadtgebietes zu erhalten, so z.B. im Jahre 1717.
Im 19. Jahrhundert waren immer wieder Teile der Stadtmauer eingestürzt. Manchmal, so ist es 1867 belegt, wurde sie nur durch die „an der Landseite dagegen gebauten Gebäude gestützt.“ (BLHA, Rep 2A I Hb 1216). Es gab auch Verkäufe von Teilen der Stadtmauer, so z.B. 1875 am Mühlentor, und von Tor- oder Wachgebäuden, etwa 1876 an den im 18. Jahrhundert errichteten Toren der Zollmauer. Die denkmalgeschützten Reste der Stadtmauer kann man heute noch in den Straßen Vor dem Mühlentor, am Schwedendamm, in der Kleinen Burg-, der Bader- und der Jederitzer Straße sowie am Schleusenkanal entdecken (Abb. 4, 5).
Eine weitere Aufgabe der Stadtmauer hätte der Schutz vor Hochwasser sein können. Die schweren Überflutungen von 1566 und 1595 sowie im 17. und 18. Jahrhundert zeigen, dass sie diese Aufgabe nicht erfüllen konnten, weil die Tore und Pforten nicht wasserdicht verschließbar waren. Alte Markierungen am Haveltor zeigten Wasserstände von mehr als 2 m über dem Normalniveau an, so dass die Bürger ihre Stadt zeitweise wohl nur mit Kähnen durchqueren konnten.
Die Zollmauer
Nach der von 1732 bis 1738 erfolgten Stadterweiterung in Richtung Osten durch den Aufbau der Neustadt wurde die Stadtmauer in den Jahren 1740 bis 1741 erheblich erweitert und als Zollmauer genutzt. Dabei entstanden als neue Ein- und Ausgänge das Berliner Tor im Osten und das Brandenburger Tor im Süden, jeweils ergänzt durch ein Torschreiberhäuschen als Kontrollstelle. Das Steintor an der Schleusenbrücke war jetzt nicht mehr erforderlich und wurde um 1733 abgetragen. Da die Zollmauer unterhalb des Friedhofs hinter den Häusern der Bergstraße zum Schulplatz verlief, spielte das Friedhofstor neben dem ehemaligen Feuerwehrdepot auch eine Rolle als Stadttor, denn es wurde wie diese nachts verschlossen. Im Bereich der sumpfigen Körgraben-Niederung wurde die Zollmauer als Palisadenzaun ausgeführt, was auf der Zeichnung von Walther Specht erkennbar ist (Abb. 6, 7). Eine weitere Funktion der Zollmauer war, dass sie den in Bürgerquartieren untergebrachten Soldaten ein mögliches Desertieren erschweren sollte.
Die Zollmauer verlor im 19. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung. Als Abgrenzung privater Grundstücke und als Halt für Weinspaliere wurde sie von den Anliegern gern genutzt. Heute sind von der Zollmauer nur noch die fünf denkmalgeschützten Abschnitte am Schulplatz, in der Berg-, in der W.-Külz- und in der Puschkinstraße sowie zwischen Mittel- und Fehrbelliner Str. erhalten (Abb. 8, 9).
Das Mühlentor
Das Mühlentor ist heute kaum noch bekannt. Im Jahre 1394 soll es nicht ausreichend bewacht gewesen sein, so dass die Truppen des Erzbischofs von Magdeburg in die Stadt eindringen und die Rathenower Bevölkerung vertreiben konnten. In einer Akte der Stadt Rathenow von 1417, in der es bei einem benachbarten Grundstück um die Befreiung von Abgaben und Diensten ging, wird das Tor erwähnt (BLHA, Rep 10A Domkapitel Brb U 331 C). Es ist auch auf der Stadtansicht von Matthäus Merian von etwa 1650 dargestellt (Abb. 10), wird aber auf dem vom Königlichen Bauinspektor Friedrich Wilhelm de Néve erarbeiteten Stadtplan von 1720 im Gegensatz zu den anderen Toren nicht hervorgehoben. Hermann Günther vermutete: „Das Mühlentor scheint nicht mit einem Turm und starken Mauern gesichert (gewesen) zu sein wie die anderen Stadttore. Vielleicht befand sich hier nur ein einfaches Holztor.“ (Günther 1934, 69). Es hatte um 1720 wohl keine große Bedeutung mehr. Anders war es bei der Befreiung von der schwedischen Besatzung am 15. Juni 1675, dem Tag von Rathenow oder dem Massacre in Rathenow. Das Mühlentor war von den am 8. Juni 1675 eingefallenen Schweden mit 12 Mann und einem Feldwebel bewacht, ähnlich wie das Haveltor. das Steintor, das Jederitzer Tor und die Havelbrücken. Die kurfürstlichen Truppen unter Generalmajor von Götze und Oberst Graf Dönhoff eroberten jedoch, von Südwesten kommend, die Freiarche. Die Musketiere der Offiziere Canovsky und von Kanne umgingen das Mühlentor und drangen vom Stadtgraben aus über einen eingestürzten Abschnitt der Stadtmauer und über die Wasserpforte in die Stadt ein. Nachdem auch das Haveltor gefallen war und die Dragoner von Feldmarschall Derfflinger nach Osten vorstoßen konnten, war das Schicksal der Schweden besiegelt und Rathenow wieder befreit.
Auf dem Stadtplan aus dem Jahre 1802 ist der Standort des Mühlentores mit einem „f“ markiert worden (Abb. 11). 1821 wurde der zu niedrige Überbau des Tores abgerissen und 1823 für die beladenen Fuhrwerke etwas höher wiederaufgebaut. Häufige Stürme rissen die hölzernen Torflügel auf, so dass endlich 1852 eine Sturmstange zur Sicherung angebracht wurde. Als das Tor 1854 repariert und deshalb für längere Zeit geschlossen wurde, gab es massive Proteste von den Arbeitern, die Umwege bei ihrem täglichen Weg zum Proviantmagazin und zu den Mühlen in Kauf nehmen mussten. Das Tor wurde also wieder geöffnet, aber schließlich 1876 vom Maurermeister Emil Grüneberg mit einem Teil der Stadtmauer abgerissen. Die Erinnerung an das ehemalige Mühlentor wird durch die heutige Straßenbezeichnung Vor dem Mühlentor wachgehalten.
Das Haveltor
Das Haveltor war das geschichtlich bedeutendste Rathenower Stadttor. Seine Rolle als Verteidigungseinrichtung gegen Angriffe aus westlicher Richtung wurde schon erwähnt. Auf der Stadtansicht von 1571 (Abb. 12) ist neben dem Haveltor ein besonders schöner viereckiger Turm mit Satteldach und Renaissance-Giebel erkennbar. Im Mai 1666 gab es einen Brand, der Turm und Tor beschädigte. Die damals üblichen Pranger oder Schandpfähle wurden 1719 an den drei wichtigsten Stadttoren, so auch am Haveltor, erneuert. Der markante Turm des Haveltores ist zwischen 1720 und 1733 abgerissen worden, wobei der verbliebene Sockel weiterhin als Wachhaus diente. Im Jahre 1807 wurde das Tor vom Potsdamer Steinmetzmeister Ludwig Trippel für 288 Taler restauriert und mit vier Pfeilern versehen, die mit etruskischen Vasenaufsätzen geschmückt wurden. Am Haveltor wurde von den Reisenden, die aus Richtung Westen kamen, der Deichselpfennig in Höhe von vier Silberpfennig pro Zugpferd erhoben. Im Wachhaus befand sich 1819 das Eichamt und später die Wohnung des Fischermeisters Heinsdorff.
Schon 1876 mussten zwei der Pfeiler wieder entfernt werden, um die notwendige Durchfahrtsbreite für Fuhrwerke zu gewährleisten. Die Arbeit führte Maurermeister August Schmidt durch. Das Haus Havelstraße 18 war mit der Fußgängerpforte und diese mit einem Pfeiler des Haveltores verbunden (Abb. 13-15). Die letzten zwei Pfeiler wurden erst 1971 abgetragen. Heute erinnern sowohl die auf dem Gelände der ehemaligen Schiffsreparaturwerft errichtete Wohnsiedlung Vor dem Haveltor als auch das Haveltorkino an das frühere Stadttor.
Das Steintor
Das Steintor im Osten der Altstadt war nur ein einfaches Satteldachgebäude, aber mit drei Wappen geschmückt. Auffällig war der zugehörige runde Wachturm mit Zinnenkranz und kegelförmigem Spitzhelm, auf dem oben eine Kugel mit Wetterfahne befestigt war. Das Steintor verlor mit der Entwicklung der Neustadt zwischen 1732 und 1738 und dem Bau der Zollmauer von 1740 bis 1741 seine ursprüngliche Bedeutung und wurde, wie oben erwähnt, um 1733 abgerissen. Es blieben neben einer Fußgängerpforte nur zwei Mauerpfeiler stehen, von denen noch 1848 berichtet wird. Deshalb gibt es nur auf der Stadtansicht von M. Merian von etwa 1650 eine Abbildung des Tores (Abb. 16) und dem gezeigten Gemälde von H.-J. Wolf nach der Stadtansicht von 1571 eine Darstellung des Steintorturms.
Das Brandenburger Tor
Das mit der Zollmauer 1741 erbaute Brandenburger Tor hatte wie das Berliner Tor die Funktion, den Ein- und Ausgang von Personen und Waren zu kontrollieren. Sein Standort am südlichen Stadtausgang ist auf dem Urmesstischblatt von 1840 erkennbar (Abb. 7). 1815 wurde das Tor aktenkundig, als der gelernte Müller Spangenberg den Antrag zum Bau einer Windmühle auf einer ehemaligen Weinanbaufläche hinter dem Tor stellte, dessen Besitzer verstorben war. Ob der Antrag genehmigt wurde, ist nicht bekannt. Während der Unruhen von 1848 war das Tor durch eine Wagenburg versperrt, weil die Bürger die Truppen der Rathenower Garnison daran hindern wollten, nach Berlin zu marschieren, um dort die demokratische Bewegung niederzuschlagen.
Leider existiert keine Abbildung von diesem Tor. Es dürfte in seiner Gestaltung eher unauffällig und zweckmäßig gewesen sein. Allerdings besaß das Bauwerk seit 1862 als Blickfang ein Zinkdach und ein zweiflügliges, handgeschmiedetes Gittertor mit Lanzenspitzen und Rosetten, das der Schmiedemeister Hermann Stilcke in der 1804 von Otto Stilcke gegründeten Kunst- und Bau-Schlosserei, Marktstr. 3, angefertigt hatte. Im Jahre 1876 wurde die ungeliebte Mahl- und Schlachtsteuer aufgehoben, so dass Getreide und Schlachttiere nicht mehr verzollt werden mussten. Daher konnten die bisherigen Kontrollen entfallen. Das Tor selbst ist wie das Berliner Tor 1876 abgerissen worden.
Seine Fundamentreste wurden 1987 bei Straßenbauarbeiten wiedergefunden und untersucht. Die Lageskizze von 1867 (Abb. 17) bestätigt, dass das Tor aus zwei Pfeilern mit Torflügeln und einen separaten schmalen Durchgang für Fußgänger bestand. Die Fundamente der Pfeiler hatten die Maße 1,2 x 1,6 m und die Durchfahrtsbreite betrug 3,4 m. Die Bezeichnung „Wohnhaus des Lucke“ (Kreisarchiv Friesack, Akte Stadt- und Zollmauer, Skizze 1867) für das angrenzende Gebäude ist als Haus des Optikermeisters Eduard Lucke mit der Anschrift Brandenburger Straße 15 zu identifizieren. Danach wohnte und arbeitete in diesem Haus jahrelang der Fleischermeister Robert Schulz. Das auf der anderen Seite stehende Steuer-Einnehmer- oder Torschreiberhaus wurde verkauft und vom Stellmachermeister Ludwig Müller genutzt. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte es als Nr. 16 der Familie Kuhberg, die später einen Kohlehandel betrieb. Das „Wohnhaus des Held“ gehörte 1867 dem „Landesproductenhändler“ August Heldt (Sandler / Berggold 1867, 473), der mit großer Wahrscheinlichkeit stadtseitig wohnte, so dass auf der Lageskizze ein Nordpfeil nach rechts zu ergänzen wäre. Der Fußgänger-Durchgang befand sich danach auf der Ostseite der Brandenburger Straße.
Das Berliner Tor
Das Berliner Tor hatte genau die gleichen Abmessungen wie das Brandenburger Tor. Es befand sich in der heutigen Berliner Straße im Bereich Goethe- und Puschkinstraße, was durch den restaurierten Teil der Zollmauer in der Puschkinstraße bestätigt wird. Seine Entstehungsgeschichte und die Aufgaben entsprachen denen des Brandenburger Tores. Auch das Berliner Tor existierte nur rund 135 Jahre und wurde 1876 abgerissen, nachdem die Zollkontrollen entfallen waren und der Straßenausbau mehr Platz erforderte. Auf den verfügbaren Abbildungen sind nur die zwei massiven Pfeiler des Tores zu sehen (Abb. 18). Bis 1843 waren sie mit Adlern geschmückt, die nach 100 Jahren stark verwittert waren und ersetzt werden sollten. Naturgetreue gußeiserne Adler waren der Stadt zu teuer. Erst nach 18 Jahren konnten neue, vom Maurermeister Ernst Wede (etwa 1810-1885) geschaffene Steinfiguren aufgesetzt werden, die aber etwas plump und nicht so filigran und elegant wie die früheren waren. Dafür hätten sie länger Wind und Wetter getrotzt, verschwanden aber schon etwa ein Jahr vor dem Abriss der Pfeiler. Bei den in der Vergangenheit häufig auftretenden Epidemien spielten die Stadttore eine wichtige Rolle, denn die Krankheiten wurden meistens durch Händler, Schiffer und Reisende eingeschleppt. Als die Cholera-Epidemie im Jahre 1830 in Berlin ausbrach, stellte die Stadt eine Bürgerwache von drei Mann an das Berliner Tor und verlangte von jedem Einreisewilligen ein Gesundheitsattest oder den Nachweis, dass er die letzten 10 Tage außerhalb von Berlin verbracht hat.
Das Jederitzer Tor
Schließlich ist noch das Jederitzer Tor zu nennen, das am längsten von allen Stadttoren existierte. Auf der Stadtansicht von 1571 erkennt man seinen ursprünglichen Torturm rechts hinter der St.-Marien-Andreas Kirche (Abb. 19). Da er auf der späteren Stadtansicht von Merian (Abb. 20) nicht mehr sichtbar ist, könnte er zu dieser Zeit schon abgetragen worden sein oder Merian hat aus einem anderen Blickwinkel gezeichnet, so dass der Turm durch die Kirche verdeckt wurde. Auf jeden Fall blieb das Jederitzer Tor als Stadttor funktionstüchtig, denn die Torflügel wurden 1715 erneuert und das Torwärterhaus 1717 renoviert. Die Reste des Turms sollen 1717 wegen Baufälligkeit eingestürzt sein. Das Tor wurde bis 1722 in völlig veränderter Form im Stil der Spätrenaissance wiederaufgebaut. Es entstand der markante Torturm mit einem attikaartigen Aufsatzkörper und Biberschwänzen als Dachabdeckung, der aus späteren Abbildungen bekannt ist (Abb. 23). Die Stadt- und die Brückenseite waren völlig gleich gestaltet. Während sich bei den anderen Stadttoren der Durchlass für Fußgänger neben dem jeweiligen Turm befand, hatte das Jederitzer Tor aus Platzgründen nur eine mittige Durchfahrtsöffnung und deshalb keinen seitlichen Durchgang. Ein Schlagbaum half dem Torwächter bei seinen Kontrollaufgaben.
Die älteste Ansicht des Jederitzer Tores ist von etwa 1870, als der Sattlermeister A. H. Meister entsprechend Firmenschild mit seiner Regiments-Sattlerei und Gerberei noch im Haus Jederitzer Straße 25 aktiv war (Abb. 21). Einige Jahre später war das Firmenschild verschwunden (Abb. 22). Im Adressbuch von 1882/83 finden wir nur noch einen Sattler Bruno Neumann in der Jederitzer Straße 12. Die Öffnung des Jederitzer Tores war nur 3,41 m breit und wurde im Laufe der Jahre für die Fuhrwerke zu eng, so dass 1881 die Diskussion über die „Niederlegung“ des Tores begann. Es war das letzte der früheren Stadttore. Anfangs war man sich darüber einig, dass das Tor wegen seiner wertvollen Architektur an einer anderen Stelle wiederaufgebaut werden sollte. Der Superintendent Arminius E.L. Glokke machte 1883 den Vorschlag, das Tor „an der Südgrenze der hochgelegenen dritten Abteilung des evangelischen Friedhofs aufzubauen. An dieser Stelle würde sich das kunsthistorische alte Bauwerk am besten präsentieren.“ (BLHA, Rep 2A I Hb 1216). Der Heimatforscher Walther Specht (1873-1946) schlug später für den Wiederaufbau des Tores den Markgrafenberg vor.
Bereits im Januar 1885 hatte der Magistrat 600 Mark für den Abriss bewilligt. Der Potsdamer Regierungspräsident Karl von Neefe (1820-1899) genehmigte das Vorhaben unter der Bedingung, dass „die verbleibenden Materialien nach einem geeigneten Aufbewahrungsorte zum Zweck des Wiederaufbaues auf Kosten der Stadt“ transportiert werden. Der Königliche Baurat Rudolph Schuke (1830-1900) wurde beauftragt, „die Arbeiten zu controllieren und dafür zu sorgen, daß der Abbruch und Transport in sorgfältiger Weise unter Schonung der brauchbaren Theile erfolgt.“ (Kreisarchiv Friesack, Akte Stadt- und Zollmauer, Brief vom 05. 11. 1885). Der Abbruch begann am 19.Januar 1886, wobei der Auftrag nicht von einem der bekannten Baumeister, sondern von dem Maurer Carl Böttcher aus der Großen Milower Str. 10 und seinen Mitarbeitern ausgeführt wurde. Die Transporte der noch brauchbaren Mauer- und Formsteine „nach dem Schulhaus-Bauplatz“ (Kreisarchiv Friesack, Akte Stadt- und Zollmauer, Blatt 3557) erledigten der Ackerbürger und Fuhrherr Bernhard Neumann, Große Baustr. 27 und der Fuhrherr Wilhelm Bleis, Havelstr. 12. Die Arbeiten waren nach weniger als vier Wochen abgeschlossen, denn Baurat Schuke bescheinigte am 15. Februar 1886 der Aufsichtsbehörde, „dass der Abriß des Jederitzer Thores hierselbst ordnungsgemäß erfolgt und das noch verwendbare wertvolle Material in einem auf dem städtischen Lagerplatz besonders hergestellten Schuppen untergebracht ist.“ (Kreisarchiv Friesack, Akte Stadt- und Zollmauer, Brief vom 15. 02. 1886). Da in den Jahren 1886 und 1887 die Hagenschule gebaut wurde, kann man davon ausgehen, dass mit den Bezeichnungen „Schulhaus-Bauplatz“ und „städtischer Lagerplatz“ der Bauplatz der Hagenschule gemeint war.
Die Suche nach dem Verbleib der Mauersteine des 1722 erbauten Jederitzer Tores blieb bisher erfolglos. Sie gelten als verschollen. Mit den oben genannten Erkenntnissen, wo die Steine nach dem Abriss 1886 eingelagert wurden, ergibt sich ein neuer Ansatz. So ist das Areal der früheren Hagenschule in der Großen Hagenstraße, heute Feuerwache, nach Osten hin mit einer historischen Ziegelmauer abgeschlossen. Eine Ortsbegehung ergab allerdings, dass keiner der dort verwendeten Mauersteine ein Format aus der Zeit um 1722 hat. Auch am Hauptgebäude selbst ist nach Aufstockung und mehrmaligen Reparatur- und Umbauarbeiten nichts mehr zu finden. Es ist daher naheliegend, dass die Steine im Verlauf der Jahre 1886/1887 dort mit verbaut wurden, denn der Standort und die Kosten für einen möglichen Wiederaufbau des Jederitzer Tores waren völlig unklar.
In der Chronik der Stadt Rathenow von 1927 nennt Walther Specht den Abriss des Jederitzer Tores „einen unverzeihlichen Fehler, der uns eines schönen Bauwerks im Stil der Spätrenaissance aus dem Jahre 1722 beraubt hat.“ (Specht 1927, 53). Im Jahre 2004 kommt Wolfram Bleis im Rathenower Heimatkalender mit sachlichen Argumenten wie der 1906 erfolgten Verbreiterung der Jederitzer Straße und der eingeschränkten Befahrbarkeit der Jederitzer Brücke zu dem gleichen Ergebnis (Bleis 2004, 48). Was zur damaligen Zeit technisch schon möglich war, zeigt das Beispiel der Verrückten Kapelle in Brandenburg an der Havel. Im Jahre 1892 wurde die kleine Jakobskapelle innerhalb von drei Tagen um 11 m verschoben, um dem zunehmenden Verkehr mehr Platz einzuräumen. Sie hat es unbeschadet überstanden und steht heute noch.
Quellen
Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam (BLHA): Akten Rep 10A Domkapitel Brb U 331 C und Rep 2A I Hb 1216
Domstiftsarchiv Brandenburg: Nachlass Dr. R. Guthjahr.
Kreis- und Verwaltungsarchiv Friesack: Akte Stadt- und Zollmauer.
Literatur
Bleis, Wolfram: Rathenow (1216-1991) zum 775. Jubiläum. In: Rathenower Heimatkalender 1991, S. 30-48.
Bleis, Wolfram: Das Jederitzer Tor – nur eine Erinnerung? In: Rathenower Heimatkalender 2004, S. 45-48.
Bleis, Wolfram: Die verschwundene Stadt, ein Streifzug durch die Geschichte der Rathenower Altstadt. Rathenow 2006.
Eichholz, Paul / Spatz, Willy (Bearb): Die Kunstdenkmäler des Kreises Westhavelland. Berlin 1913. [Siehe: Hier]
Günther, Hermann: Bilder aus Alt-Rathenow. Rathenow 1934.
Guthjahr, Erika: Alte Rathenower Bauten. Heimatverlag Guthjahr 1992.
Guthjahr, Rudolf: Kleine Chronik der Havelstadt Rathenow. Rathenow 1991.
Guthjahr, Rudolf: Märkische Volksstimme, Serie „Aus unserer Heimatgeschichte“, Artikel vom 18.10.1986 (Gefängnis) und 01.11.1986 (Schließung der Tore).
Sandler, Christoph / Berggold, F.: Deutschlands Handel und Industrie. Band 2. Berlin 1867.
Siedler, Eduard Jobst: Märkischer Städtebau im Mittelalter. Berlin 1914.
Specht, Walther: Aus der Chronik der Stadt Rathenow. Rathenow 1927. [Siehe: Hier]
Wagener, Samuel Christoph: Denkwürdigkeiten der churmärkischen Stadt Rathenow. Berlin 1803. [Siehe: Hier]
Woite, Kurt: Rathenow – Zur Förderung des Fremdenverkehrs und zur Pflege der Heimatliebe. Rathenow 1933.
Abbildungsnachweis
Abb. 1, 3 Siedler 1914.
Abb. 2 Bleis 2006.
Abb. 4, 5, 8, 9, 12: Werner Coch
Abb. 6 Havelzeitung vom 02.03.1939, auch im Nachlass Dr. R. Guthjahr NLG 403/A 64:5
Abb. 7 Staatsbibliothek Berlin PK.
Abb. 10, 16, 20 Merian, Matthäus: Topographia Electoratus Brandenburgici et Ducatus Pomeraniae, das ist Beschreibung der Vornehmbsten und bekantisten Stätte und Plätze in dem hochlöblichsten Churfürstentum und Marck Brandenburg, und dem Herzogtum Pommern. Frankfurt 1652.
Abb. 11 Wagener 1803.
Abb. 13, 14 Nachlass Dr. Rudolf Guthjahr.
Abb. 15, 21 Guthjahr, E. 1992.
Abb. 17 Kreis- und Verwaltungsarchiv Friesack.
Abb. 18, 22 Specht 1927.
Abb. 19 Eichholtz/Spatz 1913
Abb. 23 Götze, Bettina: Rathenow - wie es früher einmal war, Gudensberg-Gleichen 1992.
Empfohlene Zitierweise
Coch, Werner: Rathenow (Landkreis Havelland) - Stadttore und Stadtmauer, publiziert am 25.09.2023; in: Historisches Lexikon Brandenburgs, URL: <http://www.brandenburgikon.de/ (TT.MM.JJJJ)
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