VEB Lederfabrik Kirchhain

Andreas Hanslok

Der VEB Lederfabrik Kirchhain ging aus der im Jahre 1905 gegründeten Lederfabrik Albert Hollmigk hervor. Dieses in der Hirtenstraße 19 in Kirchhain befindliche Unternehmen stellte mit seinen 134 Beschäftigten vor dem Zweiten Weltkrieg vornehmlich alaun-, loh- oder chromgare Kalb-, Ziegen- und Schafleder her (Abb. 1). Da der Gerberei, einem sogenannten Nationalsozialistischen Musterbetrieb, die Goldene Fahne der Deutschen Arbeitsfront verliehen worden war und ihr Inhaber, Gaubetriebsgemeinschaftsleiter Walter Hollmigk, durch seine Mitgliedschaft in der NSDAP als belastet galt, wurde das Unternehmen im Jahre 1947 enteignet und in Volkseigentum überführt. Dies geschah, obwohl sich namhafte politische Verantwortungsträger, darunter Mitglieder der KPD, für Walter Hollmigk engagierten und 94,4 % der Belegschaft des Unternehmens ihrem Betriebsleiter in geheimer Abstimmung das Vertrauen ausgesprochen hatten.

Der Neubeginn nach dem Krieg gestaltete sich schwierig, da für die zu erbringenden Reparationsleistungen auf Befehl der sowjetischen Besatzungsmacht neben diversen Elektromotoren und einer Lokomobile 19 Gerbereimaschinen in dieser größten Gerberei der Stadt Kirchhain demontiert werden mussten. Trotz dieser widrigen Umstände gelang es, die Produktion in Schwung zu bringen und im Jahr 1951, durch die Belieferung mit 66.000 Ziegen- und Schaffellen, das vorgegebene Plansoll zu erfüllen. Am Ende des ersten Fünfjahrplanes (1955) gab es im VEB Lederfabrik Kirchhain 66 Aktivisten der sozialistischen Arbeit. Dem Betrieb war in diesem Zeitraum zweimal die Wanderfahne des Ministeriums für Leichtindustrie verliehen worden. Doch trotz dieser Erfolge kam es, bedingt durch die unflexible zentral gesteuerte Planwirtschaft, immer wieder zu Problemen bei der zu wenig am Bedarf orientierten Produktion. So mussten z.B. im Jahr 1956 die durch fehlerhafte Materialdispositionen entstandenen Überplanbestände des VEB Lederfabrik mit Sonderkrediten der Deutschen Notenbank finanziert werden. Im Jahr 1959 konnten die Planziele auf Grund einer mangelhaften Materialbelieferung und des Ausfalls einer Entfettungsanlage nicht fristgerecht erreicht werden.

Durch die im Jahr 1960 von der Zentralstelle für Standardisierung der ledererzeugenden Industrie erarbeiteten neuen Lederstandards entstanden allgemein verbindliche Güterichtlinien, die der Produktion zugrunde gelegt werden konnten und die eine Ledererzeugung vorbei am Markt verhindern sollten. Im Zuge der Einhaltung dieser nützlichen Standards stellte der VEB Lederfabrik im Jahre 1961 echtes Saffianleder für besonders hochwertige Kleinlederwaren, wie Brieftaschen und Portemonnaies, aber auch besonders leichtes Schafleder für hochwertige Täschnerwaren her, die auf der Frühjahrsmesse in Leipzig präsentiert werden konnten. Die Schließung der DDR-Grenzen im Jahr 1961 wirkte sich vor allem nachteilig auf die heimische Lederindustrie aus. So fehlte der schnelle Zugang zu Informationen über neue internationale Modetrends und technische Innovationen. Zwar wollten die Gerber in Doberlug-Kirchhain das Weltniveau in der Lederproduktion erreichen, doch wussten sie nicht, wo sie diesbezüglich mit ihren Produkten standen, da sie sich in der westlichen Welt nicht umsehen durften.

Durch die Einführung des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung wurden dem gesamten Produktionsprozess klare abrechenbare Kennziffern zugrunde gelegt und mit der Anwendung sogenannter „ökonomischer Hebel“ der sozialistische Wettbewerb befördert. Um schneller Probleme in der Produktion lösen zu können, die Produktionskosten zu senken, den Import von Rohhäuten zu reduzieren, Energie, Gerb- und Farbstoffe effizienter einzusetzen und den Produktionsprozess permanent zu rationalisieren, gründete man im Jahr 1963 eine Betriebssektion der Kammer der Technik, die in den folgenden Jahren in fünf bis acht sozialistischen Arbeitsgemeinschaften aktiv war.

Wichtigste Grundlage für den im VEB Lederfabrik geführten sozialistischen Wettbewerb wurde das im Jahr 1966 eingeführte Haushaltsbuch, das einen ständigen Plan-Ist-Vergleich der verschiedensten Kennziffern (Qualität, Materialverbrauch, Zeitsummenabrechnung, Ausfallzeiten, Maschinenpflege, Arbeitsdisziplin, gesellschaftliche Arbeit) zuließ. Im Rahmen der vorhandenen sehr bescheidenen Investitionsmittel rüstete man den Betrieb auch weiter technisch auf. So konnte zum Beispiel 1959 eine neue Lederentfettungsabteilung in Betrieb gehen und eine hydraulische Lederpresse angeschafft werden. Im Jahr 1965 wurde ein neues Kesselhaus gebaut und die ersten Entwollmaschinen aus Frankreich konnten in der Produktion eingesetzt werden. Im Jahr 1968 schaffte der Betrieb moderne tschechische Spannrahmentrockner an. Im Jahr 1969 erfolgte der Bau einer neuen Farbkammer. Spritzbänder erleichterten später die Färbung der Leder. Ab 1974 beschleunigten Vakuumtrockner den Produktionsprozess (Abb. 2-8). Da ein Großteil der im VEB Lederfabrik verarbeiteten Rohhäute aus Indien stammte, wollte man die Qualität der Ware vor Kauf und Import genau prüfen. Daher, aber auch weil man indische Firmen technologisch unterstützen wollte, arbeitete ab 1967 viele Jahre lang ein Gerbereiingenieur des VEB Lederfabrik in Madras.

Um die Betriebe meist einer Industriebranche besser steuern zu können, schloss man diese in der DDR zu Kombinaten zusammen, die wiederum dem jeweiligen Industrieministerium direkt unterstellt waren. Der VEB Lederfabrik Kirchhain gehörte zunächst zum Schuhkombinat „Paul Schäfer Erfurt“ und später zum Kombinat „Kunstleder und Pelzverarbeitung Leipzig“ (Abb. 9). Er vergrößerte sich, da fünf zuvor halbstaatliche Gerbereien, die ab 1972 in Volkseigentum überführt worden waren, im Jahr 1975 offiziell zu Betriebsteilen des VEB Lederfabrik wurden. Mit diesem Zusammenschluss erweiterte sich zwar das Produktsortiment des Betriebes, doch behinderten außer- und innerbetriebliche Probleme immer wieder einen reibungslosen Produktionsprozess. Durch sehr späte bzw. kurzfristige Farbfestlegungen in der Schuhindustrie kam es häufig zu sogenannten „Stoßarbeiten“ am Monatsende. Da die Nitrofarben in vier verschiedenen Produktionsstätten auf die Leder gespritzt werden mussten, entstand ein erhöhter logistischer, personeller und somit auch finanzieller Aufwand. Abhilfe versprach man sich von einer neuen Zurichthalle, in der man die Endzurichtung der Leder zentralisieren wollte. Diese 1584 m² große Halle, die in Stahlbetonfertigbauweise errichtet werden sollte, projektierte man bereits im Jahr 1977. Fertiggestellt werden konnte sie jedoch, bedingt durch die verzögerte Belieferung mit „nicht bilanzierten Betonteilen“, erst einige Jahre später. Folge der Einführung einheitlicher Technologien in den Betriebsteilen und der Optimierung der Arbeitsorganisation war u.a. eine Verbesserung der Produktqualität. Daher erhielt der VEB Lederfabrik Kirchhain, in dem mittlerweile 270 Werktätige arbeiteten, zehn Jahre in Folge den Titel „Betrieb der ausgezeichneten Qualitätsarbeit“ verliehen. Um das Entwicklungstempo bei der Herstellung modischer Lederprodukte beschleunigen zu helfen, schloss der VEB Lederfabrik ab 1979 direkte Kooperationsvereinbarungen mit den Finalproduzenten ab.

Bis 1989 produzierte der VEB Lederfabrik Kirchhain hochwertige Leder u.a. für die Schuhfabriken VEB „Goldpunkt“, VEB „Bella“ und die Salamanda AG, für Täschnerwaren, Lederbekleidung und sogar Musikinstrumente. Der Betrieb war jedoch nicht nur eine Produktionsstätte. Er kümmerte sich auch sehr intensiv um das geistige und körperliche Wohl seiner Mitarbeiter. Schon im Jahr 1957 hatte man für die weiblichen Beschäftigten einen Frauenruheraum eingerichtet. Im Jahr 1962 gründete sich eine Betriebssportgemeinschaft mit den Sektionen Fußball, Handball und Kegeln. Im Werk befanden sich eine Küche, Kantine, Sanitätsstelle und Betriebsbibliothek (Abb. 10). Man engagierte sich im Klub der Werktätigen, stellte den Mitarbeitern betriebseigene Wohnungen, Urlaubsobjekte und den Kindern der Beschäftigten Ferienlagerplätze zur Verfügung, unterstützte Ausflüge sowie Brigadefeiern. Für die Förderung des geistig-kulturellen und sportlichen Lebens stellte der VEB Lederfabrik allein im Jahre 1979 seinen Mitarbeitern 126.000 Mark zur Verfügung.

Nach der politischen Wende in der DDR war unter den veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen ein Überleben des im Jahr 1990 zur Kirchhainer Leder GmbH gewordenen Betriebes nicht mehr möglich. Die Treuhandanstalt lehnte die Umsetzung eines nach dem Liquidationsbeschluss von 1992 erarbeiteten Management Buyout Projektes aus Kostengründen ab. Somit hörte im Jahr 1995, nach Abwicklung des Unternehmens, die Kirchhainer Leder GmbH auf zu existieren.

Quellen

Archiv des Weißgerbermuseums Doberlug-Kirchhain.

Abbildungsnachweis

Bild 1 – 10 Weißgerbermuseum Doberlug-Kirchhain

Empfohlene Zitierweise

Hanslok, Andreas: VEB Lederfabrik Kirchhain, publiziert am 14.03.2022; in: Industriegeschichte Brandenburgs, URL: http://www.brandenburgikon.de (TT.MM.JJJJ)


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