Stalagmarke, Stacheldraht und Stern

Thomas Kersting

Heute, 80 Jahre nach dem Überfall des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion 1941, rücken endlich auch die sowjetischen Kriegsgefangenen als eine der größten Opfergruppen von Krieg und Gewaltherrschaft stärker in den Blick des Gedenkens und auch der archäologischen Forschung in Brandenburg.

Doch wie kann man sie erkennen, welche Funde und Befunde sind charakteristisch für diese Gefangenengruppe in Konzentrations- und Außenlagern, Zwangsarbeits- und Kriegsgefangenenlagern? Manche der mittlerweile äußerst zahlreichen Befunde und Funde sind ja praktisch überall anzutreffen: Reste der Baracken, Infrastruktur, Zäune oder das allgegenwärtige Kantinen- und Emailgeschirr, militärisches Ess- bzw. Kochgeschirr, Kämme, selbstgemachte Dinge und Andenken an zuhause sowie alle möglichen Blechmarken.

Auch Stacheldraht von Zäunen findet sich fast überall, aber intentionell, planmäßig eingegrabener Stacheldraht, auch als Doppelzaun und als interne Lager-Unterteilung ist ein Hinweis auf die Anwesenheit vor allem von sowjetischen Kriegsgefangenen (Bernbeck 2017, 279). In der Heeresdienstvorschrift H. Dv. 319/2 „Behelfsmäßiges Bauen im Kriege – Teil II – Ergänzungs- und Sonderbauten“ ist der eingegrabene Stacheldraht-Doppelzaun zwar nicht ausdrücklich nur für sowjetische KGF vorgesehen (S. 34), durch seine Verwendung als interne Abgrenzung in den STALAG wird er aber zum archäologisch erkennbaren rassistischen Marker. Offensichtlich ist in der Vorschrift im „Abschnitt D – Sonderbauten, I. Kriegsgefangenenlager“ noch gar nicht vorgesehen, dass hier gefangene Sowjetsoldaten untergebracht werden. Dokumentiert wurden solche Befunde bislang in Konzentrationslagern (Ravensbrück, Sachsenhausen), in Kriegsgefangenenlagern (Eisenhüttenstadt und Frankenfelde) sowie in Zwangsarbeitslagern (Kleinmachnow, Tempelhof)) (Abb. 1). Befunde minderwertiger Pfahlrost-Gründungen von Baracken fanden sich in Konzentrationslagern (Sachsenhausen, Uckermark und Jamlitz) sowie in Zwangsarbeitslagern (Kleinmachnow, Rathenow, Hohensaaten, Germendorf, Wilhelmshorst und in Brieskow-Finkenheerd) (Abb. 2) – aber offenbar noch in keinem der großen Kriegsgefangenenlager. Diese Befunde verraten das rassistisch abgestufte Menschenbild der NS-Ideologie, die innerhalb der verschiedenen Lager bauliche Unterschiede für die Unterbringung verschiedener Menschengruppen bedingte – was für die Betreiber-Firmen dieser Lager sehr praktisch war, um Aufwand zu minimieren. Für Brieskow-Finkenheerd ist bezeichnenderweise bekannt, dass hier jüdische Gefangene untergebracht waren, die mit den Sowjetsoldaten auf der untersten Rangstufe der Rassenhierarchie standen.

Allgemein lagertypische Funde sind unterschiedlichste Blechmarken, mit Zahlen und Namen versehen. Der Unterdrückung und Entfremdung dienen z. B. Effektenmarken, die Insassen als „Beleg“ für die Abgabe all ihrer Habe bekamen. Sie finden sich in Konzentrations- und Zwangsarbeitslagern. Militärische Erkennungsmarken finden sich in den großen Kriegsgefangenen-Stammlagern von Frankenfelde, Eisenhüttenstadt und Mühlberg, auch Uniformknöpfe fremder Armeen, die in anderen Lagertypen fehlen.

Sogenannte Stalagmarken dagegen wurden als Erkennungsmarken von der Wehrmacht bei der Erfassung an die gefangenen sowjetischen Soldaten ausgegeben, da diese keine besaßen (teilweise nur umgehängte Bakelit-Röhrchen mit Zetteln, die bislang im Fundmaterial fehlen). Diese Stalagmarken fanden sich ebenfalls in den großen Kriegsgefangenen-Stammlagern, aber auch sonst da, wo sowjetische Kriegsgefangene eingesetzt wurden, also außerdem noch in Konzentrationslagern und in Zwangsarbeitslagern wie Rathenow und Hohensaaten (Abb. 3). Zudem findet man sie in den sogenannten Waldlagern der Roten Armee, die nach der Kapitulation und Befreiung der Zwangslager angelegt wurden.

Bei der Registrierung im Stammlager wurden von der Wehrmacht die Nummern in die dazugehörige Personalkarte eingetragen. Viele der Registrierungsakten haben sich erhalten und sind heute in einer Datenbank des russischen Verteidigungsministeriums einsehbar (www.obd-memorial.ru/html/index.html). Die konkreten Personen, die solche Marken in der Gefangenschaft erhielten, lassen sich heute anhand ihrer Nummer, sofern sie lesbar ist, in Verbindung mit der Nummer des STALAG über die Internet-Seite der russischen Organisation Memorial (mit etwas Glück) recherchieren

Sowjetstern-Motive finden sich auf archäologischen Funden wie Uniformknöpfen und Abzeichen, aber dass in den NS-Zwangslagern die Befreier aus dem Osten sehnsüchtig erwartet wurden, belegen auch selbstgefertigte Blecharbeiten, wie z.B. ein Hammer-und-Sichel-Symbol im Umriss einer Fahnenspitze aus Rathenow.

Eine besonders prächtige Blechschachtel mit Stern, Hammer und Sichel, Verzierungen sowie Aufschrift „Sachsenhausen 44/45“ in der Sammlung der Gedenkstätte (Abb. bei Morsch/Ley 2016, 102) legt die Vermutung nahe, dass ganz ähnliche Stücke aus Waldlagern der Roten Armee nach der Befreiung ebenfalls von sowjetischen Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeiter/innen gefertigt wurden, ehe sie als „Repatrianten“ in diese Lager kamen.

Mittlerweile gibt es, durch die Arbeit der Ehrenamtler, eine ganze Reihe weiterer verzierter Schmuck-Blechdosen oder Schachteln, u.a. mit Inschriften und Sowjetsternen verziert (Abb. 4a, b).

Diese Blechdosen und zu diesem Zweck zugeschnittene Blechstücke (Halbfabrikate), stammen ohne Zweifel aus Zwangsarbeits- und Konzentrationslagern, wo solche Dinge heimlich aus Produktionsresten (i.d.R. Flugzeug-Aluminium) hergestellt wurden (zuletzt Kersting 2020, 243) (Abb. 4, 5). Eine Schachtel aus Neu Bensdorf, die eine aufwendig eingeritzte Schmuckinschrift „GANOVER“ („Hannover“ in kyrillischer Schrift) trägt, ist das eindrucksvollste Stück (Abb. 6). Bei näherem Hinsehen erkennt man auch, wem sie gehörte, denn über und unter dem großen Schriftzug findet sich in kleineren Buchstaben der Name „Nikolai Schaltakin“.

In diesen Zusammenhang gehört auch ein beschrifteter zylindrischer Essbehälter aus Klein Behnitz im Havelland, ein sogenannter „Henkelmann“), dem aber die Henkel fehlen. Er stammt aus einem Zwangslager, denn er weist eingeschlagene Inschriften auf: viermal mal OST (für sogenannte „Ostarbeiter“, Sowjetbürger) und dazwischen die russischen Namen MISA und WIKTOR, die aber mit lateinischen Buchstaben lautmalerisch dargestellt sind. S und W dienen als lautlich stimmiger Ersatz für die jeweiligen kyrillischen Buchstaben, der letzte Buchstabe von Wiktor wurde mit einem umgedrehten L dargestellt. Diese Inschriften sind ein berührendes Zeugnis des Versuchs eigener Identitätsversicherung, aber unter Einbeziehung zwangsweise adaptierter Lager-Kategorien (Abb. 7) – als „Ostarbeiter“. Zwischen den Namen steht auch noch das Wort OCHOTH – möglicherweise für einen Nachnamen, es kann Jäger bedeuten.

Was beide Stücke, die Schachtel aus Hannover und den „Henkelmann“ verbindet, ist, dass sie sozusagen „hybrid“ beschriftet wurden, in einer deutsch-russischen Mischung: entweder deutsches Wort mit kyrillischen Buschstaben geschrieben (Hannover) oder russische Namen auf Deutsch (bzw. mit lateinischem Zeichensatz).

Im großen Waldlager der Roten Armee bei Hoppegarten fand sich jüngst eine Aluminium-Essschüssel des Reicharbeitsdienstes, die offenbar einem Zwangsarbeiter gehörte, wie die am Rand eingeschlagene Häftlingsnummer 41885 belegt (Abb. 8) - ähnliche Stücke sind z.B. auch aus Dachau bekannt. Solche Dinge, vor allem, wenn sie als Behälter dienten, waren den Verfertigern so wichtig, sowohl funktional als auch als Souvenirs, dass sie nach der Befreiung mitgeführt wurden.

Ein Werksausweis für einen sowjetischen „Ostarbeiter“ wurde in einem Waldlager bei Gortz gefunden. Er wurde ausgestellt vom „Märkischen Metallbau Oranienburg“, einem Rüstungsbetrieb, trägt die Nummer 3122 samt dem Vermerk „OST“, und gehörte dem am 8.12.1925 in Schulkajka geborenen Wolodimir Jakimtschuk (Abb. 9). Er war vermutlich zunächst von seinem Inhaber behalten worden, um seine Zwangsarbeit nachzuweisen.

Personengruppen, wie die sowjetischen Kriegsgefangenen und „Ostarbeiter“, waren also nicht an einen Lagertyp gebunden und werden im archäologischen Bestand sichtbar, weil ihre Anwesenheit spezifische bauliche Eingriffe indizierte (Pfahlrostgründung, eingegrabener Stacheldraht) und spezifisches Material generierte (Stalag-Marken).

Diese materielle Reste - Funde und Befunde - kennzeichnen Personengruppen, weil sie Einwirkungen von außen widerspiegeln, denen sie in einem feindlichen Netzwerk unterschiedlicher Einflüsse ausgesetzt sind (Abb. 10): der rassistischen NS-Ideologie, militärischer Praxis und Internationalen Konventionen, Wirtschafts-Interessen und Politik-Vorgaben. Eine rassistische Ausgrenzungs- und letztlich Vernichtungsabsicht nach Ausnutzung der Arbeitskraft, kombiniert mit wirtschaftlicher Aufwandsminimierung zielte in erster Linie auf die von keiner internationalen Konvention geschützten sowjetischen Gefangenen.

Nachdem sie aus rassistischen Gründen erst gar nichts ins Reich gelangen sollten und in improvisierten Lagern hinter der Front Millionen an Krankheiten und Hunger zu sterben begannen, realisierte die Wehrmacht das Problem, auf das sie sich nicht vorbereitet hatte. Fast gleichzeitig erkannten NS-Wirtschaft und Militär, dass ohne die Ausnutzung der Arbeitskraft der Gefangenen der Krieg nicht fortzusetzen war. Daher wurden zunächst große „Russenlager“ auf abseits gelegenen Truppenübungsplätzen angelegt (keines davon im heutigen Land Brandenburg), bis dann schließlich sowjetische Kriegsgefangene praktisch überall zur Arbeit eingesetzt wurden – und auch archäologisch nachweisbar sind. Diese Entwicklung des Sinneswandels verlief noch im Jahr 1941 nach dem Überfall auf die Sowjetunion innerhalb während weniger Monate. Hier zeigt sich die verbrecherische Flexibilität der NS-Ideologie und Wirtschaft angesichts des pragmatischen Aufschubs der Vernichtungsabsicht durch vorherigen Arbeitseinsatz. Bedingung für den Einsatz im Reich war allerdings die Aussonderung rassistisch und politisch unerwünschter Personen – Juden, sogenannte politische „Kommissare“ etc., die zu Tausenden ermordet wurden – z.B. in Sachsenhausen, wo die Erschießungsanlage archäologisch dokumentiert wurde. Hier dürften sich „logischerweise“ keine Stalagmarken finden, denn die Soldaten waren ja zuvor aus der Kriegsgefangenschaft „entlassen“ worden. Dennoch fand sich in der Asche der Toten ein Exemplar.

Mit dem Vordringen der Alliierten machten sich dann, schon vor der endgültigen Kapitulation im Mai 1945, die aus den Lagern befreiten Überlebenden auf den Weg nach Hause. Wer nach Osten wollte, überquerte die Elbe im Norden Brandenburgs, und geriet dort in die Obhut der Sowjetarmee, in ihren Waldlagern. Hier gingen mitgeführte Erinnerungsstücke an die Zeit in den Zwangslagern verloren oder wurden, was noch wahrscheinlicher ist, aussortiert. Dies bestimmt auch deswegen, damit es keinen Hinweis mehr auf die Vergangenheit als Kriegsgefangener oder Zwangsarbeiter gab, denn als solcher war man den Kameraden von der Armee suspekt, hatte man sich doch ergeben und gar für den Feind gearbeitet, wenn auch gezwungenermaßen – man galt ganz offiziell als „Verräter“.

Solche Zusammenhänge werden nun erstmals auch anhand archäologischer, materieller Quellen sichtbar, und ihre Auswertung steht erst am Anfang.

Literatur

Bernbeck, Reinhard (Hrsg.): Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors - zu einer Archäologie der Zeitgeschichte. Bielefeld 2017.

Blank, Margot / Quinkert, Babette (Hrsg.): Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg. Berlin 2021.

Kersting, Thomas: Lagerland. Archäologie der Zwangslager des 20. Jahrhunderts in Brandenburg – Eine Einführung. Berlin 2022.

Morsch, Günter / Ley, Astrid (Hrsg.): Das Konzentrationslager Sachsenhausen 1936 – 1945. Ereignisse und Entwicklungen. Berlin 2016.

Abbildungsnachweis

Abb. 1 A. Drieschner.

Abb. 2 E. Kirsch, BLDAM.

Abb. 3, 5, 6, 8-10 Th. Kersting.

Abb. 4, 7 Th. Bruns.

Empfohlene Zitierweise

Kersting, Thomas: Stalagmarke, Stacheldraht und Stern, publiziert am 03.11.2023; in: Historisches Lexikon Brandenburgs, URL: http://www.brandenburgikon.de (TT.MM.JJJJ)

Kategorien

Epochen: Preußische Provinz - Land Brandenburg
Themen: Archäologie und Siedlung - Herrschaft und Verwaltung


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