Rathenow (Landkreis Havelland) - Arado Zwangsarbeiterlager

Thomas Kersting

Die Arado Flugzeugwerke GmbH, 1921 in Warnemünde gegründet, war einer der größten Lieferanten der deutschen Luftwaffe. Zweigstellen entstanden ab 1934 in Brandenburg an der Havel, in Anklam, Potsdam-Babelsberg, Alt-Lönewitz, Landeshut, Sagan, Wittenberg und Rathenow. In allen Werken zusammen waren Ende 1942 mehr als 17.500 zivile Zwangsarbeiter eingesetzt. Bis zu einem Luftangriff auf die Fabrik am 18. April 1944 wurde in Rathenow hauptsächlich der Heinkelbomber He 177 in Lizenz hergestellt, danach der Focke-Wulf Fw 190. Auch Steuerelemente zur sogenannten Vergeltungswaffe (V 1 und V 2) wurden hier produziert.

1944 forderte Arado KZ-Häftlinge zur Zwangsarbeit an, die ab September in Rathenow eintrafen. Eine große Gruppe niederländischer Häftlinge kam dabei über das Hauptlager Sachsenhausen ursprünglich aus dem KZ Herzogenbusch bei Vught. Die Häftlinge nieteten Tragflächen und stellten Steuerflächen für Raketenwaffen und Schrauben her. Die am 20. Februar 1945 eintreffenden 150 polnischen Juden aus dem Außenlager Glöwen mussten dagegen außerhalb der Werkshallen in der Kälte und in dünner Kleidung Tragflächen montieren. Im Außenlager lebten alle Häftlinge in einfachen Baracken, umzäunt von einem doppelreihigen, unter Strom gesetzten Stacheldraht. Eigens gepflanzte Kiefern an der Straßenseite sollten Einblicke von außen verhindern. Im Laufe der Zeit wurden die Lebensmittelrationen immer geringer, so dass die Häftlinge bald völlig entkräftet waren und befürchteten, selektiert und weggebracht zu werden. Zeitzeugen berichten von etwa 40 Todesopfern infolge der Mangelernährung, in den unvollständig erhaltenen SS-Dokumenten lassen sich aber nur 17 Tote nachweisen. Lagerführer des KZ-Außenlagers war SS-Unterscharführer Otto Schultz bzw. Schulz, dem SS-Wachmannschaften und ukrainische Freiwillige unterstanden. Sie schikanierten und schlugen die Häftlinge ständig und dachten sich immer wieder grausame Misshandlungen aus. So musste sich ein Häftling bei minus 25 Grad entkleiden und wurde immer wieder mit Wasser übergossen. Er starb innerhalb weniger Stunden. Gegen Ende des Krieges löste die SS das Außenlager nicht auf. Sie zwang die Häftlinge auch nicht auf einen Todesmarsch, obwohl der Befehl ergangen war, zumindest die jüdischen Häftlinge zu „evakuieren“. Da die Rote Armee nicht mehr weit entfernt von Rathenow war, flohen die SS-Leute und überließen die Häftlinge sich selbst. Sowjetische Soldaten befreiten das Außenlager am 25. April 1945. Nach 1945 wurden die Betriebsanlagen der Arado in Rathenow in der DDR zu Volkseigentum erklärt. Mehrere Werkhallen und das Verwaltungsgebäude des Unternehmens stehen heute noch und sind anderer Nutzung zugeführt worden. Die Arado Flugzeugwerke GmbH wurde 1961 aufgelöst. Das Gelände des ehemaligen Außenlagers wurde teilweise überbaut.

Vom KZ-Außenlager Rathenow konnte 2004 etwa ein Viertel, ca. ein Hektar, ausgegraben werden, der größte Teil war schon überbaut. Ergraben wurden Fundamente von Baracken, die auf einem Luftbild von 1945 zu erkennen waren, sowie Ver- und Entsorgungs-Leitungen und Müllgruben. Auch eine vor Aufnahme des Bildes schon wieder entfernte Baracke wurde festgestellt. Nur das Waschhaus und die Unterkünfte für das Wachpersonal hatten Wasseranschlüsse, Häftlingsbaracken nicht. Bauteile, Töpfen, Flaschen oder Geschirr gehören zur Ausstattung, andere Funde aus dem persönlichen Besitz der Häftlinge wie Aluminiumschachteln, Knochenspatel oder ein kleines Messer sind heimlich gefertigte Gegenstände. Ist schon an der Lagerstruktur die Funktion als KZ-Außenlager abzulesen (doppelreihiger Elektrozaun und Wachtürme), so stützt dies auch das Fundmaterial wie Becher der SS-Manufaktur Bohemia, oder eine Aluminiumdose mit Häftlingsnummer.

Zunächst hatte es eine öffentliche Diskussion über die Notwendigkeit der Ausgrabung, ihre Kosten und sogar die Existenz des Außenlagers (bzw. seine Funktion, etwa nicht KZ, sondern „nur“ Zwangs- bzw. „Fremd“arbeiterlager) gegeben. Erst die Ausgrabung lieferte den Nachweis, dass es sich um das durch Zeitzeugen überlieferte KZ-Aussenlager-Gelände handelte.

Die Grabung bewirkte ein Umdenken: aus dem Projekt erwuchs eine Ausstellung in der Gedenkstätte Sachsenhausen und in Rathenow, die ein positives Echo fand. Sie verknüpfte archäologische Befunde mit anderen Quellen und Zeitzeugen-Aussagen. Die Funde wurden thematisch geordnet und gedeutet, die Detailinformationen verwandelten die Objekte im Auge des Betrachters von neuzeitlichen Alltagsgegenständen zu historischen Bedeutungsträgern. In Rathenow vollzog sich exemplarisch durch die - zunächst unfreiwillige - Auseinandersetzung mit der Geschichte ein durch Pragmatismus geprägter Wahrnehmungswandel. Hier zeigte sich, dass durch die umfassende Darstellung aller verfügbaren Quellen Geschichte adäquat vermittelt werden kann. Die Forderungen des Denkmalschutzes konnten umgesetzt und der Ort gleichzeitig ins Gedächtnis zurückgeholt werden. Dies markierte einen Wendepunkt in der Wahrnehmung in der Öffentlichkeit.

In 2017 wurden von Ehrenamtlichen im Bereich weiterer ehemaliger Wohnbaracken wieder Gegenstände gefunden. Die sind einerseits Dinge, die mit der Werksproduktion zu tun haben, technische Schilder und Kunststoff-Schriftschablonen aus der Produktion und Konstruktionsabteilung. Andererseits aber umso interessantere Dinge, die ein Leben unter Zwangs- und Mangelbedingungen hinter verschlossenen Türen beleuchten: aus Flugzeug-Aluminium selbst hergestellte Gabeln und Schilder mit Initialen (Abb. 1, 2) Kochgeschirre mit mehrfach eingeritzten (offenbar wechselnden) Besitzerinschriften (Abb. 3) – Dinge also, die neben der lebenswichtigen Funktion auch die eigene bedrohte Identität bekräftigen halfen.

In diesen Lebensbereich gehören wohl auch selbst aus Blech gefertigte Christbaumschmuck-Anhänger, in Form von Sternen, Buchstaben, Glocken und Engeln (Abb. 4).

Hinzu kommen französische Medikamente, Schlüsselanhänger von Baracken, STALAG-Marken von Kriegsgefangenen, schließlich aber auch Fund-Material, das auf die Befreier hinweist: eine selbst aus Blech ausgeschnittene Fahnenspitze mit Hammer und Sichel, die im Umriss genau den originalen, offiziellen Stücken entspricht, sowie dünne Sowjetsterne als Siegessymbole, wie sie in Brandenburg seit 2014 aus Waldlagern der Roten Armee bekannt sind – und die auch unweit der Fundstelle in Rathenow im Wald verborgen liegen (Abb. 5).

Von der Werksverwaltung angefertigt wurden nicht nur Schlüsselanhänger mit Aufschriften der jeweiligen Baracke und Stube (Abb. 6), sondern Werksausweise, die an die Mitarbeiter ausgegeben wurden - bzw. an die „Gefolgschaft“ in damaliger Diktion. Sie tragen Namen von deutschen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, aber auch polnische, tschechische, holländische, belgische französische, spanische und sogar portugiesische (!) Namen (Abb. 7 oben).

Auch an ihnen lässt sich der für die Zwangslager typische Umstand beobachten, dass lebensnotwendige Gegenstände selbst improvisiert angefertigt wurden. Die „deutschen“ Ausweise besitzen oft stabile Metall-Einschubhüllen, die sie schützten. Auf den Ausweis-Rückseiten ist aufgedruckt, welche Strafen bei Verlust und Beschädigung fällig werden. Bei „ausländischen“ Ausweisen ist manchmal zu erkennen, dass man sich aus dünnem Blech, zweifellos aus der Produktion, selber ähnliche Hüllen faltete (Abb. 8) – vielleicht auch um einen gewissen Status der Zugehörigkeit zu demonstrieren? Auffällig ist auch, dass viele Ausweise offensichtlich absichtlich zerrissen wurden – eine demonstrative Geste bei der Befreiung durch die Rote Armee?

Besonders interessant sind die Ausweise mit spanischen und portugiesischen Namen. Die Geschichte spanischer NS-ZwangsarbeiterInnen ist nur teilweise erforscht. Etwa 10.000 Spanier wanderten im November 1941 nach Deutschland aus; sie kamen in Sonderzügen mit Arbeitsverträgen für jeweils ein Jahr. Die anderen Spanier, die sich „freiwillig“ in Frankreich anwerben ließen, oder von dort aus deportiert wurden, sind bis jetzt praktisch unerforscht. Die Geschichte der Portugiesen ist bislang – auch in Portugal selbst – gänzlich unbekannt. Zwar sind die Lebensgeschichten portugiesischer Juden im Holocaust erforscht, jedoch nicht die der portugiesischen ZwangsarbeiterInnen und derjenigen, die freiwillig nach Deutschland kamen. Erst jetzt - zufällig ebenfalls im Jahr 2017 – befasst sich eine Ausstellung durch Historiker der Universität Lissabon mit dem Thema. Das Exil aus Portugal war wohl gering im Vergleich mit dem aus Spanien, dem ca. 500.000 Personen den Rücken kehrten (meist nach Südamerika), und ca. 140.000 nach Frankreich gingen. Die Mehrzahl der Portugiesen lebte wohl schon seit Jahren als „normale Emigranten“ dort, ehe sie ins deutsche Reich gelangten.

Antonio Salazar und Francisco Franco haben etwa zur gleichen Zeit wie Hitler ihre Diktaturen in Portugal und Spanien aufgebaut. Die damit verbundene Verfolgung aller politischen Gegner im eigenen Land hat zu einer weit reichenden Migration vieler Portugiesen und Spanier nach Frankreich geführt. In der Folge hat sich durch die schnelle Niederlage Frankreichs im 2. Weltkrieg die Lebenssituation vieler Portugiesen und Spanier in Frankreich drastisch verändert. Viele meldeten sich entweder zum freiwilligen Arbeitseinsatz in Deutschland oder wurden zunehmend ab 1942 von den Besatzungsbehörden zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt, wenngleich sicher die meisten in Frankreich für die „Organisation Todt“ arbeiten mussten. Die neuen Funde aus Rathenow lassen diese Prozesse erstmals durch die Archäologie nachvollziehbar werden.

 

Der Beitrag erschien unter dem Titel: Kersting, Thomas: Europaweit: neue Funde aus dem ARADO Zwangsarbeiterlager Rathenow im Havelland, Brandenburg. In: GedenkstättenRundbrief 195 9 (2019), S. 18-22.

Literatur

Antkowiak, Matthias / Völker, Eberhard: Dokumentiert und konserviert: ein Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen in Rathenow, Landkreis Havelland. In: Archäologie in Berlin und Brandenburg 2000. Darmstadt 2001, S. 147-149.

Kersting, Thomas / Heinz, Andre: Identität aufgedeckt. (Neue Funde aus dem ARADO Zwangsarbeiterlager Rathenow). In: Archäologie in Deutschland 05 (2018), S. 55.

Abbildungsnachweis

Abb. 1-8 Th. Kersting.

Empfohlene Zitierweise

Kersting, Thomas: Rathenow (Landkreis Havelland) - Arado Zwangsarbeiterlager, publiziert am 10.10.2023; in: Historisches Lexikon Brandenburgs, URL: <http://www.brandenburgikon.de/ (TT.MM.JJJJ)

 

Kategorien

Epochen: Preußische Provinz - Land Brandenburg

Themen: Herrschaft und Verwaltung - Archäologie und Siedlung - Wirtschaft


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