Waldlager der Roten Armee
Thomas Kersting
Einleitung
70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges richtet sich der Blick der Brandenburger Landesarchäologie auf bislang völlig unbekannte archäologische Relikte, nämlich „neue“ militärgeschichtliche Funde und Befunde in brandenburgischen Wäldern. Gemeldet wurden sie dem Fachamt durch aufmerksame Ehrenamtliche Mitarbeiter. Eigentlich muss ihr Anblick seit Jahrzehnten Förstern, Wanderern, Anwohnern und anderen Menschen, die im Gelände unterwegs sind, vertraut sein - nur hat bislang niemand erkannt, dass es sich um geschichtliche Zeugnisse im Boden und damit um archäologische Denkmale handelt. Wir erhalten die Kenntnis davon durch „Ehrenamtliche Beauftragte“, ausgebildete „Hobbyarchäologen mit Ausweis“, die - wie Sieghardt Wolter aus Brandenburg an der Havel - im Auftrag des Amtes landesweit unterwegs sind und nach archäologischen Fundplätzen aller Art suchen und diese an uns melden.
Auch ihnen war lange nicht bewusst, dass sich die Landesarchäologie „neuerdings für so etwas“ interessiert – immerhin ist die Archäologie der Neuzeit und sogar der Zeitgeschichte längst in Brandenburg angekommen (Kersting 2015). Es bedurfte diverser Gespräche und Fundvorlagen im Rahmen des regelmäßigen Lehrganges für „Ehrenamtliche“, bis beiden Seiten klar wurde, worum es dabei geht. Dies ist auch der Grund dafür, dass hier in Bezug auf die wissenschaftlich unverzichtbare Quellenkritik einige Erläuterungen gegeben werden müssen, die vor diesem Hintergrund verständlich werden. So wurde z.B. Fundmaterial über längere Zeit von verschiedenen Fundplätzen angesammelt, das sich heute nicht mehr trennen lässt (dies betrifft insbesondere silberne „Wertsachen“), weil den „Ehrenamtlichen“ nicht klar war, dass auch für dieses Material und diese Zeitepoche die im Lehrgang erlernten Regeln für „normale“ archäologische Fundplätze gelten.
Ihnen als „Einheimischen“ war vertraut, was in den östlichen Bundesländern durch die ältere Zeitzeugengeneration vermitteltes Allgemeingut ist: „die Russen lagen da hinten im Wald“ ist ein Spruch, den hier jeder von seinen Großeltern oder Eltern gehört hat. In den brandenburgischen Wäldern lagerten große Truppenteile in regelmäßig angelegten Waldlagern aus eingegrabenen traditionellen Blockhäusern (Kersting 2016).
Sichtbarer Befund
Hier finden sich stellenweise ganze Gruppen von rechteckigen, heute überwachsenen und z.T. mit Bäumen bestandenen Gruben, von ca. 3x6 Metern, die noch etwa hüfttief sind, und fast immer an einer Schmalseite eine Zugangsrampe haben (Abb. 1). Sie sind meist ganz „militärisch- exakt“ entlang von Waldwegen aufgereiht, oft in mehreren Reihen, manchmal nur wenige, aber auch bis zu mehreren Dutzend oder gar Hunderten an einem Ort (Abb. 2, Digitales Geländemodell Waldlager Hoppegarten).
Diese Eingrabungen sind die Reste von halb eingegrabenen Blockhäusern, im Russischen sogenannte „Semljanka“ (Erdhütte, oder allgemein militärischer Unterstand). Die Ähnlichkeit zu den allgemein aus slawischem Zusammenhang bekannten Grubenhäusern, die hierzulande allerdings mindestens ca. 1.200 Jahre älter sind, ist zunächst unübersehbar. Es ist nicht unwahrscheinlich, ja naheliegend, dass die Bautradition aus derselben Quelle schöpft. In (seltenen) zeitgenössischen Fotos (Abb. 3) wie auch im archäologischen Befund ist allerdings zu sehen, dass neben der Blockbaukonstruktion auch stabilisierende Pfosten eingesetzt wurden, manchmal stecken sie im Einzelfall sogar noch heute halb vergangen in ihren Pfostenlöchern, wie bisweilen zu beobachten ist. Auch benutzte man aufrecht stehende Bäume zur Verankerung der Konstruktionen mit großen Eisenkrampen, wie sie noch in situ vorhanden sein können oder beim Fundmaterial auftreten.
Diese Anlagen wurden offenbar nach „nach Dienstvorschrift“ errichtet; denn in einem militärischen Handbuch von damals, dem „Sputnik partisana“ („Begleiter des Partisanen“, der im russischen Internet aufgetrieben werden konnte) gibt es eine Konstruktionszeichnung dazu, die den heutigen Resten gut entspricht.
Praktisch also schon ohne Ausgrabung zu sehen sind die exakten Grenzen der Erdhütte, ihr Eingang an der Schmalseite und ihre abgestufte Innengliederung. In den Längs- und Querprofilen mehrerer Sondage-Grabungen war dies noch besser nachzuvollziehen, dazu kommen weitere Einzelheiten wie die Pfostenstellungen im Eingangsbereich und in der Mitte der Längsseiten.
Die Verbreitung dieser „Waldlager“ ist derzeit vor allem in Nordwest- und West-Brandenburg sowie nördlich und östlich von Berlin nachgewiesen, wobei unklar ist, wie viele Stellen sich noch unentdeckt im Wald befinden.
Die Eingrabungen sind sehr markant und recht einheitlich, sowohl in der Art der Konstruktion der einzelnen als auch in der Art ihrer Gruppierung: fast immer strikt linear an vorhandenen Waldwegen und streng parallelen Reihen, bei größeren Anlagen auch in Gruppen, denen kleinere Gruben zugeordnet sind. Daher lassen sie sich in situ und im Digitalen Geländemodell relativ sicher von ähnlichen Eingrabungen militärischer Natur unterscheiden, die in den Brandenburger Wäldern nicht selten sind; wie Geschützstellungen, eingegrabene Fahrzeugstandorte u.a.m. Dabei ist auch ein zu vermutender Zusammenhang dieser Eingrabungen mit (älteren und jüngeren) Truppenübungsplätzen, an denen Brandenburg ja reich ist, auszuschließen; sie liegen alle außerhalb der bekannten Orte, und das umgebende Waldgebiet ist in allen Fällen völlig ungestört und unberührt, wie sich nicht zuletzt im Digitalen Gelände-Modell beobachten lässt. Außerhalb von Wald sind solche Anlagen nicht bekannt. Da Wald hierzulande fast zu 100 % auch unebenes, welliges, ja hügeliges Gelände bedeutet, ist damit gleichzeitig die Platzwahl beschrieben: praktisch immer in Hanglage, häufig am Fuße desselben in der Nähe des inneren Waldrandes, offenbar um den Blick ins freie Feld (in der Nähe) zu haben. Der Fundplatzkatalog umfasst die derzeit von Ehrenamtlichen erkannten und gemeldeten Plätze, die meist zusätzlich durch einschlägiges Fundmaterial abgesichert sind, sowie weitere, die am „Bildschirm“ entdeckt wurden, und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dazu gehören. Dadurch, dass seit 2015 intensiv nach solchen Standorten gesucht wird, ihr Erscheinungsbild / Steckbrief allen Ehrenamtlichen und Unteren Denkmalschutzbehörden bekannt gemacht wurde, hat sich ihre Anzahl zwar bedeutend erhöht, nicht aber ihr landesweit ungleiches Verteilungsbild.
Fundmaterial
Die Brandenburgische Landesarchäologie besitzt seit neuestem zahlreiche Funde aus diesen Waldlagern der Roten Armee von 1945, wo offenbar Alltagsgegenstände, Ausrüstungsteile etc. zurückgelassen wurden. In diesen „Waldlagern“ (die Begriffsprägung erfolgte in Anlehnung an den bekannten militärischen Begriff „Feldlager“) fand der Alltag der Rotarmisten statt, abseits der noch andauernden Kampfhandlungen um die „Reichshauptstadt“ - und sicher auch noch eine Zeitlang danach.
Dort finden sich einerseits relativ wenige militärische Objekte, Abzeichen und Orden, Schilder, technische Gegenstände, selten mal ein Helm oder Fahrzeug- und Waffenteile. Andererseits sind die zu den Baulichkeiten und zum täglichen Leben gehörige Gegenstände häufiger: Werkzeug, Tür- und Fensterbeschläge, „Einrichtung“ wie z.B. aus Geschosshülsen gebastelte Lampen, Bleche aller Art, militärische Essgeschirre, sowie Kannen, Becher, Töpfe, Besteck und vieles anderes mehr.
Manches ist mit eingeritzten kyrillischen Inschriften versehen, dabei handelt es sich offenbar um individuelle, eigene Gebrauchsgegenstände wie Löffel oder Essgeschirre. Kleine Aluminiumschilder mit Namen waren offenbar am Pferdezaumzeug angebracht, denn sie tragen rührenderweise offenbar Pferdenamen.
Anderes, offenbar angeeignetes Material ist häufig mit eingeritzten Sowjetsternen überprägt. Man hatte sich dafür eigens Schablonen aus starkem Blech hergestellt (Abb. 4 Koppelschlösser und Stern-Schablone). Typischerweise werden dabei z.B. Hakenkreuze auf Wehrmachts-Koppelschlössern ausgelöscht, die man dann selber trug, wie auf Fotos aus der Zeit zu sehen ist. Auch werden Sowjetsterne häufig aus Blechen ausgestanzt oder ausgesägt (Abb. 5), was man damit gemacht hat ist unklar, vielleicht hat man sie getragen, verschenkt oder nur zum Zeitvertreib angefertigt?
Hinzu kommt auch regelmäßig ziviles Material, es reicht von Fahrradteilen und abmontierten Bad-Armaturen ,wie Wasserhähnen und Duschköpfen, über zahlreiche Reste von Uhren bis hin zu allen möglichen Wertsachen (Silberbesteck, Rasier- und Feuerzeug, Zigarettenetuis, Schmuck) (Abb. 6) und anderen Kleinobjekten, die offensichtlich der Zivilbevölkerung abgenommen worden waren. Auch Porzellan gehört hin und wieder dazu, gläserne Bierseidel mit Zinndeckel, aber auch Bügeleisen, Bruchstücke von Musikinstrumenten sowie von Grammophon-Schalltrichtern und Schallplatten.
Auch Relikte des Nazi-Regimes sind vorhanden: Abzeichen wie Orden oder Mutterkreuze bis hin zu (wie erwähnt) Koppelschlössern der Wehrmacht.
Dass die Funde in die Zeit um das Kriegsende gehören, bezeugen deutsche, polnische und selten auch sowjetische Münzen mit Prägedaten der 30er und 40er Jahre, sowie ein kyrillisch beschriftetes Schild mit dem Datum 22.4.1945.
Die Funde, offensichtlich u.a. aussortierte „Kriegsbeute“, die mit Inschriften versehenen Alltagsgegenstände, die selbst hergestellten (aber auch regulären) Ausrüstungsteile sowie die Reste der Unterkünfte selber, mit offenbar in der Umgebung requiriertem Zubehör (z.B. Türbeschläge und anderes mehr), werfen eine Vielzahl von Fragen auf, von denen die wenigsten schon beantwortet werden können. Wahrscheinlich verbleiben in den Wäldern nur Reste, die keinen Wert mehr hatten (und die wir heute finden), nachdem die Bevölkerung der umliegenden Dörfer sich nach Abzug der Truppen in die Kasernen alles was noch halbwegs brauchbar war – u.a. sicher vor allem das Bauholz - (zurück)geholt hatte (Stieger 2016).
Quellenkritisch ist zu den Funden anzumerken, dass sie auffälliger Weise fast ausschließlich aus Metall bestehen – im Gegensatz zu allen anderen „herkömmlichen“ archäologischen Perioden. Ohne Zweifel liegt das auch an speziellen Vorlieben und der Vorgehensweise der Ehrenamtlichen Metallsucher, die z.B. „kaputtes“ Porzellan uninteressant finden. Jedoch haben auch die amtlichen Sondagegrabungen anderes, nicht metallisches Material nur in geringem Umfang zutage gefördert. Aber es gibt natürlich vereinzelt auch Porzellan und Glas, offensichtlich aus zivilen Haushalten, während die Rote Armee regulär offenbar nur Blech-/Emailgeschirr mit sich führte. Hier spielten also die Vorlieben und Interessen der Ehrenamtlichen eine Rolle als Fund-Auswahlfilter, bevor ihnen klargemacht wurde, dass für die Landesarchäologie alles Fundmaterial von Interesse ist.
Jubiläumsjahr 70 Jahre Kriegsende
Im Zuge des Jubiläums „70-Jahre-Kriegsende“ 2015 sind diese Funde natürlich besonders aktuell. Die Reaktion der Öffentlichkeit war entsprechend, der Rundfunk Berlin-Brandenburg berichtete mehrfach, ebenso wie DPA, die Märkische Allgemeine und andere Print-Medien; nicht zuletzt nutzte der bekannte Wissenschafts-Journalist Guido Knopp für seine Produktion „Die Stunde Null“ für den TV-Sender Phoenix die Möglichkeit, aktuelle Ausgrabungsszenen zu drehen.
Wir kennen seit 2014 mittlerweile schon über 80 solche „Waldlager“, viele davon haben Funde geliefert. Manche Stellen werden darüber hinaus schon seit Jahren von illegalen Metallsuchern aufgesucht, wobei offensichtlich Orden mit Hakenkreuzen besonders attraktive Suchobjekte sind. Damit verbunden ist natürlich der Umstand, dass diese Stellen unsystematisch „geplündert“ und zerstört werden, bevor die Landesarchäologie sie als Denkmale eingeordnet und unter Schutz gestellt hat. Auch Zerstörungen durch die normale Wald-Bewirtschaftung finden bereits statt – wenn der Forstpflug erst einmal ein solches Lager „überfahren“ hat, ist alles kaputt.
Wir haben also keinen Anlass, die Erforschung der Zukunft zu überlassen, dann gibt es vielleicht bald nichts mehr zu erforschen. Das gilt natürlich grundsätzlich für alle archäologischen Bodendenkmale. Erst wenn wir eine neue Denkmalkategorie (wie jetzt die Waldlager der Roten Armee) einigermaßen gut kennen, können wir sie auch begründet unter Schutz stellen, um sie für die Zukunft zu erhalten.
Historische Hintergründe
Die neuen Funde und Befunde stammen aus dem historischen Moment des „Kampfes um Berlin“. Sie beleuchten den Alltag der "Rotarmisten", unmittelbar nach den Kampfhandlungen um die „Reichshauptstadt“ und sicher auch noch eine (längere?) Zeit danach.
In den Brandenburger Wäldern finden sich heute als archäologische Funde die Spuren und Hinterlassenschaften des „kleinen Mannes“, die von einer Zeit erzählen, die von Kampf und Gewalt geprägt war, von Aneignung und Auslöschung, Überwindung und Überprägung im Großen wie im Kleinen, im konkret physischen Sinne wie auch im symbolisch-weltanschaulichen Zusammenhang.
Dies illustrieren eindrucksvoll Fundstücke wie die Wehrmachts-Koppelschlösser mit ausgelöschtem Hakenkreuz und darüber eingeritztem Sowjetstern und überhaupt die sehr zahlreichen, aus Blechen ausgesägten, ausgefeilten, ausgestanzten Sowjetsterne - sie stehen anscheinend für das ausgeprägte Bedürfnis der Soldaten, sich zur eigenen Selbstvergewisserung mit ihrem Sieges-Symbol – auch mit Hammer und Sichel-Motiv - zu schmücken und es auch der Kriegsbeute aufzuprägen (Abb. 7).
Das Ganze stellt ein hochinteressantes Material dar, das man als Zeugnis von Aneignung und Überwindung deuten kann und dies sowohl ganz konkret als auch im übertragenen Sinne - war doch der Rotarmist über Jahre auf die Überwindung und Vernichtung des Nazi-Regimes trainiert und auch psychologisch vorbereitet worden. Zu diesem Zweck war er hierher bis nach Berlin gekommen und hatte dabei unmenschliche Strapazen und Leiden auf sich nehmen müssen - wofür sich diejenigen, die es bis hierher „geschafft“ hatten, sich am militärischen Gegner wie auch an der Zivilbevölkerung glaubten entschädigen zu dürfen.
Diese Vorgänge sind durch Zeitzeugen und Geschichtsforschung ausführlich überliefert und erforscht. Über die zeitweise Unterbringung umfangreicher Truppen im Wald jedoch
scheint es von Seiten der historischen Forschung so gut wie nichts zu geben, jedenfalls soweit man derzeit mit herkömmlichen und digitalen Methoden recherchieren konnte. Es muss ja z.B. nachvollziehbare, belegbare militärische Entscheidungen geben, die Truppen - offenbar vorübergehend - in die Wälder zu legen, doch diese militärische Quellengattung entzieht sich derzeit unserem Zugriff. Es lag nahe, das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst (heute Museum Karlshorst) als Sachwalter der Geschichte der Roten Armee auf deutschem Boden um Mithilfe zu bitten, ebenso wie die Kollegen und Kolleginnen vom Institut für Zeitgeschichte München/Berlin.
Das Buch „Iwans Krieg“ von Catherine Merridale (2006) informiert immerhin, aber nur allgemein auf der Basis von authentischen Aussagen von Zeitzeugen über die Rahmenbedingungen. Hier findet sich aber ein aufschlussreiches Foto vom Bau einer sogenannten „Semljanka“ durch reguläre sowjetische Truppen 1943, noch auf russischem Boden (s Abb. 3); man sieht wie zweckmäßig ausgerüstete Soldaten im Wald anhand der dort gefällten Bäume eine massive, halb eingetiefte Blockhütte errichten, die in allen erkennbaren Details unseren Befunden entspricht.
Auch im „Deutschland-Tagebuch 1945-1946“ des ehemaligen Rotarmisten Wladimir Gelfand findet sich einiges zur Situation und den Lebensumständen der einfachen Soldaten zu dieser Zeit (Gelfand 2008). Er berichtet weniger von den Unterständen, dafür umso mehr von den allseits bekannten Bemühungen des Rotarmisten um die „Organisierung“ von Uhren und Fahrrädern – beides dank seiner Foto-Leidenschaft als gutaussehender junger Offizier in sehr aussagekräftigen Bildern dokumentiert (http://www.gelfand.de/).
Die Funde, wie die offenbar aussortierte Kriegsbeute, die mit Inschriften versehenen Alltagsgegenstände (Abb. 8, 9), die selbst hergestellten (aber auch regulären) Ausrüstungsteile sowie die Reste der Unterkünfte selber, mit offenbar in der Umgebung requiriertem Zubehör (z.B. Türbeschläge und anderes mehr), werfen eine Vielzahl von Fragen auf, von denen die wenigsten schon beantwortet werden können, und die in der nächsten Zeit auch mit Hilfe der Historiker-Kollegen erforscht werden müssen.
Offenbar legte man diese Waldlager an, um die Konfrontationen mit der Zivilbevölkerung in der Stadt zu beruhigen. Aber warum entstand die ungleichgewichtige Verteilung - nicht nur östlich von Berlin, also in der Hauptstoßrichtung der 1. Weißrussischen Front, sondern häufig auch westlich von Berlin in Richtung Elbe. Warum wurden die z.T. nicht ganz wertlosen Dinge „aussortiert“ und zurückgelassen, geschah dies auf Befehl?
Warum findet man so viel improvisiert selbst hergestellte Ausstattung? Offenbar war die Rote Armee, was nicht verwundert, am Ende ihrer Möglichkeiten.
Wie kommt es, dass es neben der Dienstvorschrift des „Sputnik partisana" („Begleiter des Partisanen“) identische Konstruktionszeichnungen in der zeitgenössischen deutschen Dienstanweisung für den Winterkrieg von 1942 gibt? Immerhin gibt es Parallelen zu „unseren“ eindeutig mit der Roten Armee verbundenen Befunden aus weit entfernten Arealen, wo dies auszuschließen ist, so aus Erding in Bayern im Umfeld des dortigen großen Zwangsarbeiterlagers (Irrlinger 2014) oder im Umfeld des „Reichs-Erntedankfeldes“ am Bückeberg (Mitteilung Landesarchäologie Niedersachsen). Andere Eingrabungen wie z.B. durch die Amerikaner unter Kampfbedingungen im Rheinland sehen anders aus (Wegener 2014). Offensichtlich hat die Wehrmacht vom Gegner schnell gelernt.
Wie lange bestanden diese Waldlager – angesichts des „improvisierten“ Charakters werden die meisten wohl nur in 1945 genutzt worden sein, doch gibt es Luftbilder der ersten systematischen sowjetischen Befliegung von 1953, die noch intakte Strukturen zeigen.
Gerade aufgrund von Funden, die eindeutig Zwangsarbeitern zuzuweisen sind (Abb. 10), wissen wir, dass in den Waldlagern auch die zahllosen nach Kriegsende in Richtung Heimat strömenden Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen aus dem Westteil des Deutschen Reiches aufgefangen wurden. Hier warfen sie bestimmt das belastende Material fort, denn sie galten den Kameraden von der Roten Armee als „Verräter.“
Trotz - oder auch gerade wegen - der offenen Fragen präsentierte ab April 2016 eine Sonderausstellung im Archäologischen Landesmuseum im Paulikloster mit dem Titel „Zwischen Krieg und Frieden“ in Zusammenarbeit mit dem Museum Berlin-Karlshorst die neu entdeckten Hinterlassenschaften der Roten Armee. Bis heute – 2023 – wurde sie schon an 13 Stationen in Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Polen als eine der erfolgreichsten Ausstellungen des Landesmuseums präsentiert.
Dieser Beitrag erschien unter dem Titel: Kersting, Thomas: Neue Bodendenkmale: Waldlager der Roten Armee 1945. In: Archäologie in Berlin und Brandenburg 2014. Darmstadt 2016, S. 171-173.
Literatur
Gelfand, Wladimir.: Deutschland-Tagebuch 1945-1946, hrsg. von Elke Scherstjanoi. Berlin 2008.
Irrlinger, Walter: Dokumentation, Erfassung und öffentliche Darstellung der KZ und KZ-Aussenlager in Bayern. In: Geteilt Vereint! Denkmalpflege in Mitteleuropa zur Zeit des Eisernen Vorhangs und heute. ICOMOS Hefte des Dt. Nationalkomitees LIX (2015), S. 207-216.
Kersting, Thomas / Meissner, Christoph / Scherstjanoi, Elke (Hrsg.): Waldlager der Roten Armee 1945/46 - Archäologie und Geschichte. Berlin 2022.
Merridale, Catherine: Iwans Krieg. Frankfurt am Main 2006.
Stieger, Klaus: Militärische Geheimnisse im Müncheberger Stadtwald I. In: Jahrbuch Märkisch Oderland 2016, S. 31-33.
Wegener, W.: Amerikanische und deutsche Feldstellungen im Hürtgenwald, Kreis Düren. In: Kunow, J. (Hrsg.): Archäologische Kriegsrelikte im Rheinland. Führer zu archäologischen Denkmälern im Rheinland 5, 2014, S. 216-222.
Abbildungsnachweis
Abb. 1, 4-7, 10 Th. Kersting.
Abb. 2 Arch. Dokumentationszentrum BLDAM / LGB Brandenburg, Chr. Unglaub.
Abb. 3 Merridale 2006.
Abb. 8 D. Sommer, BLDAM.
Abb. 9 Th. Bruns.
Empfohlene Zitierweise
Kersting, Thomas: Waldlager der Roten Armee, publiziert am 03.11.2023; in: Historisches Lexikon Brandenburgs, URL: http://www.brandenburgikon.de (TT.MM.JJJJ)
Kategorien
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