Oderbruch

Reinhard Schmook

In Neutrebbin, der größten Oderbruch-Kolonie, versammelten sich am 5. Juni 1994 rund 5.000 Einheimische und Gäste, um einem denkwürdigen Ereignis beizuwohnen. An seinem historischen Standort wurde das neugeschaffene Denkmal für Friedrich II. anlässlich des 90. Jahrestages seiner Erstaufstellung enthüllt. Unter der Schlagzeile »Möge er lange und in Frieden auf dem Sockel stehen«, berichtete die Märkische Oderzeitung: »Die Enthüllung war feierlich. Mit preußischer Pünktlichkeit marschierte Punkt 13 Uhr ein Umzug in Richtung Denkmal. Vornweg das Polizeiblasorchester Frankfurt (Oder). Dann die Berliner Stadtgarde in den historischen Uniformen der Grenadiere Nr. 6 von 1740. Dahinter ritten Husaren in Uniform. Zum Marsch der Kursächsischen Leibgarde marschierte die Berliner Stadtgarde vors Denkmal. Dort waren längst zahlreiche der geladenen Gäste versammelt. Bauminister Hartmut Meyer war da. Prinz Dr. Friedrich Wilhelm von Preußen kam in Vertretung seines Vaters, des Chefs des Hauses Hohenzollern, Prinz Louis Ferdinand. Mit dabei auch die Prinzessin Marie Cäcilie von Oldenburg. Der Bildhauer Roland Rother ließ sich den Tag ebenso wenig entgehen wie Maria Barkhoff, die Enkelin des Bildhauers Heinrich Wefing, der 1904 das erste Alte-Fritz-Denkmal geschaffen hatte.« (Abb. 1)1

Diese Denkmalweihe hat etwas zu tun mit der allgemeinen Friedrich-Verehrung, die ein ganz wesentlicher Bestandteil des Identitätsbewusstseins der Oderbrücher ist, das sie seit der Neubesiedlung im 18. Jahrhundert entwickelt haben und das bis in die Gegenwart fortwirkt. Auch die Erinnerungsarbeit kommt hier nicht ohne den großen Friedrich aus. Immer wieder wird in Bezug auf das Kolonisationswerk im Oderbruch der vermeintliche Ausspruch Friedrichs zitiert: »Ich habe im Frieden eine Provinz erobert.« In ihm steckt eine Anspielung auf den bisherigen Erwerb beziehungsweise die Eroberung fremder Territorien mit kriegerischen Mitteln. Was der König anlässlich eines Inspektionsbesuches im nördlichen Oderbruch wirklich gesagt hat, klingt etwas bescheidener, spielt aber in der Diktion des Überlieferers, des glaubwürdigen Zeitzeugen Kammerrat Friedrich Wilhelm Noeldechen, eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Mythos Oderbruch: »Als alle Arbeiten vollendet, die Dörfer gebaut und mit Einwohnern besetzt waren, ließ Friedrich II. bey einer solchen Reise [von Ostpreußen über Freienwalde nach Potsdam – d.A.] die beyden Kommisarien, den Oberst Petri und Kriegsrath von Haerlem auf den Fährkrug bey Freyenwalde bescheiden. Nachdem er durch seine Fragen in das genaueste Detail gegangen war, und über Alles befriedigende Antworten erhalten hatte, dankte er ihnen mit der ihm ganz eigenen Leutseligkeit für den dabey bewiesenen Eifer. Unterdessen hatte sich eine große Zahl der von ihm in‹s Land gerufenen Kolonisten versammelt. Nicht mit wildem Geräusch opferten sie ihren Dank. Mit ehrfurchtvoller Stille, mit unverkennbaren Merkmalen der innern Zufriedenheit, reinlich gekleidet mit Weib und Kindern, blickten sie auf ihren erhabenen Wohltäter und Vater, und brachten ihm so das Opfer ihrer ihm ganz ergebenen Herzen. Ihm war das ein rührendes Schauspiel. Bald ruhte sein Blick auf diesem frohen Volkshaufen, bald wandte er ihn auf die reiche, fruchtbare Gegend, die mit den neuen Dörfern und zahlreichen Heerden hier so besonders vorteilhaft in die Augen fiel, und dann rief er mit der innigsten Bewegung: ›Ich habe eine Provinz gewonnen.‹«2

Die Verehrung und Überhöhung Friedrichs II. als Vaterfigur und Urheber der Trockenlegung und Besiedlung des Oderbruchs ist ein wesentlicher Teil der Erinnerungskultur der Oderbrücher in Vergangenheit und Gegenwart. Dieses Phänomen wird auch in der ständigen Ausstellung des Oderlandmuseums thematisiert, in der es unter anderem um die Geschichte des Oderbruchs geht. Denkmäler als Verdinglichung der Friedrich-Verehrung spielten dabei eine wesentliche Rolle. Darum hat die Albert Heyde Stiftung als Trägerin des Oderlandmuseums vom Bildhauer Roland Rother im Jahre 2010 die Gipsplastik des nach ihr in Bronze gegossenen Friedrich-Denkmals in Neutrebbin erworben. Sie beeindruckt in ihrer Größe und Eindringlichkeit innerhalb des Ausstellungsraumes noch mehr als das Bronzebildnis draußen im Freien und ist, gemessen an der Reaktion der Museumsbesucher, ein glaubwürdiger Zeuge des Friedrich-Mythos.

In den Mythenerzählungen über die Urbarmachung und Besiedlung des Oderbruchs gab es überdies keine Einzelpersönlichkeit, die neben dem verehrten großen König hervortritt. Die leitenden Beamten und sonstigen Protagonisten dieser vorbildhaften landeskulturellen Maßnahme mit dem Ziel der Peuplierung dieses furchtbaren, aber dünnbesiedelten Landstrichs verblassten weitgehend hinter der Lichtgestalt Friedrichs des Großen.3 Daran hat auch die Befriedigung des im 19. Jahrhundert wachsenden historischen Interesses durch etliche wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Werke Schuld. In Zeitungen, Kalendern, Almanachen, Romanen fand auch die friderizianische Binnenkolonisation ihren Platz. »Maßstäbe setzten vor allem die auflagenstarken Werke von Leopold v. Ranke, J. D. Preuß (1832) und Ernst Berner sowie die Friedrich-Biografien von Georg Winter (1907) und Reinhold Koser (1912–14), in denen der Kultivierung des Oderbruchs ein vergleichsweise umfangreicher Raum gewidmet wurde.«4

1746 erarbeitete der Wasserbauingenieur holländischer Abstammung und spätere Oberdeichinspektor Simon Leonhard von Haerlem (1701–1775) den umfassenden Plan zur nachhaltigen Trockenlegung des gesamten Oderbruchs. Kernstück des Vorhabens war der »Neue Oder Canal« von Güstebiese bis Hohensaaten, dessen Bau sich als äußerst schwierige Aufgabe erwies. Ein längeres Teilstück musste durch den westlichen Sporn der neumärkischen Hochfläche gegraben werden. Die Erdarbeiten wurden sowohl von Sträflingen, als auch von den ersten Kolonisten ausgeführt. Wo sie nicht ausreichten, setzte der König das gerade nicht im Krieg befindliche Militär ein. Trotz aller Rückschläge wie Hochwassereinbruch, Seuchen, Desertionen und des Widerstands der altansässigen Fischer waren die Arbeiten nach sechs Jahren beendet. Durch den zunächst etwa 38 Meter breiten Kanal wurde der Oderlauf um 25 Kilometer verkürzt, der Rückstaupunkt von Zellin nach Oderberg verlegt und der Rückstau um immerhin 3,50 Meter gesenkt. Infolge dieser genialen ingenieurtechnischen Leistung wurde das fruchtbare Land sehr schnell trocken und war nunmehr für den Ackerbau und die Anlage neuer Siedlungen nutzbar (Abb. 2).

Der Kriegs- und Domänenrat von Haerlem kannte das Oderbruch aus seinen Anfangsjahren als preußischer Beamter in Berlin, sorgte für eine akribische planerische Vorbereitung und begleitete die Ausführung seines Werkes bis zu seinem Tode (Abb. 3). Neben der wasserwirtschaftlichen Problematik war er auch für die Ansiedlung, Unterbringung und die Ausstattung eines Großteils der Kolonisten verantwortlich. 52 Jahre stand er im Staatsdienst, hat fast dreißig Jahre ausschließlich im Oderbruch gewirkt und dort alles überwacht und kontrolliert. Die ganze Zeit über war er vollkommen auf sich allein gestellt, mit Arbeit überlastet und für alles verantwortlich. Die immer wieder hereinbrechenden Oderfluten mit verheerenden Folgen, die noch unzureichenden baulichen Gegebenheiten, gerechtfertigte und ungerechtfertigte Klagen von allen Seiten, das alles machte sein Arbeitsleben aus und war von ihm zu bewältigen. Sein Ruhm aber verblasste bald, wie auch der seiner hochrangigen Mitstreiter.

Die gezielte Erinnerung an sie und ihre Leistungen begann erst durch das Engagement des geschichtsinteressierten Oberbarnimer Landrates Peter Fritz Mengel (1884–1967). Am 26. April 1919 wurde er zum Landrat gewählt, bei dieser Gelegenheit erklärte er, dass er es als preußischer Beamter ablehne, sich zur Führung seines Amtes eine Parteibrille aufzusetzen. In der Kreisverwaltung dürfe es nur sachliche Arbeit ohne Ansehen der Person geben. Sein Amt übte er mit hoher Verantwortung und persönlichem Einsatz über die gesamte Zeitdauer der Weimarer Republik aus, konnte stolze Erfolge vorweisen und war allseits beliebt.

Am 26. Oktober 1923 wurde Landrat Mengel durch einstimmiges Votum der Repräsentanten des Ober- und Niederbruches zum Deichhauptmann des Oderbruchs gewählt. Hochwasserschäden, die Nachwirkungen des Krieges und die Inflation hatten das Bruch in einen Zustand der Verwahrlosung und akuten Notlage versetzt. Auf der Grundlage eines Gesetzes vom 12. Januar 1921 wurde ein Sonderplan zur Hilfe für die Oderbrücher aufgestellt, den der neue Deichhauptmann ausführen sollte. Hauptziel des Sonderplanes war die Verbesserung der Vorflut im Oderbruch. Dazu mussten die in ihren Abmessungen zu gering dimensionierten Gräben im gesamten Bruch ausgebaut und viele neue geschaffen werden, eine Anstrengung, die bald von durchschlagendem Erfolg gekrönt war. Bis 1928 waren rund 420 Kilometer Hauptvorfluter und Nebengräben neu ausgebaut und auch die Parallelgräben längs der Hauptoderdeiche wieder funktionstüchtig hergerichtet. Außerdem wurde eine große Anzahl Schöpfwerke neu errichtet.

Das zweite große Verdienst Mengels als Deichhauptmann war die Zentralisierung der Deichverwaltung. Schon 1932 wurden sämtliche Verwaltungsstellen im Deichhaus in der Bad Freienwalder Wilhelmstraße, heute Goethestraße, zusammengelegt. Damit war die Grundlage für den gemeinsamen Deichverband Oderbruch geschaffen, der am 1. Oktober 1940 aufgrund der Satzung vom 22. August des gleichen Jahres gegründet wurde. Unter Leitung Mengels wurden die bisher bestehenden zwei Haupt- und zwölf Unterdeichverbände aufgelöst und ihre Aufgaben vom Deichverband Oderbruch übernommen. Welch überwältigendes Vertrauen ihm die Oderbrücher entgegenbrachten, zeigte seine Wiederwahl zum Deichhauptmann am 9. September 1935 auf zwölf Jahre.

Für den Sitzungssaal der Deichrepräsentanten im Deichhaus ließ er von einer jungen Malerin alle führenden Deichbeamten, von Haerlem beginnend bis zu den aktuellen Deichhauptleuten, nach mühevoll recherchierten Bildporträts in Öl malen. Diese Ölporträts haben alle die gleiche Größe, goldene Rahmen und tragen unten das Namensschild des Porträtierten. Ein Teil von ihnen, unter anderem das schöne Porträt Haerlems, wird heute im Oderlandmuseum bewahrt beziehungsweise ausgestellt.

Simon Leonhard von Haerlem starb in Berlin und wurde auf dem Friedhof der Dreifaltigkeits-, Jerusalem- und Neuen Kirche in Berlin-Kreuzberg beigesetzt. Als gegen Ende der 1920er Jahre ein Teil dieses Friedhofes eingeebnet und bebaut werden sollte, war davon auch die Haerlemsche Familiengrabstätte betroffen. Deichhauptmann Mengel sorgte dafür, dass 1929 die erhaltene große Sandsteintafel für Haerlems Frau Catharina Beningna von Haerlem (1707–1786) und seine Enkelin von der Grabstätte abgenommen und nach Freienwalde gebracht wurde. Haerlems Grabtafel gab es da schon nicht mehr, allerdings das prächtige, in Sandstein gehauene Familienwappen. Beide fanden als Erinnerungsmale einen neuen Platz am Deichhaus, wo sie bis heute zu besichtigen sind. Allerdings sind 1986 die schadhaften Originale in das Oderlandmuseum überführt und am Deichhaus durch Sandsteinkopien ersetzt worden.

Seit 2016 gibt es im Oderbruch sogar einen Gedenkstein an Simon Leonhard von Haerlem, und zwar auf dem Oderdeich bei Nieschen, einem Ortsteil von Letschin. Die Initiatoren gaben diesem Erinnerungsort die etwas prosaische Bezeichnung »Der von Haerlem-Blick«. Auf einer Hinweistafel ist zu den Motiven Folgendes zu lesen: »Auf Beschluss der Gemeindevertretung Letschin soll dieser wunderschöne Standort dazu genutzt werden, die Leistungen des Oberdeichinspektors Simon Leonhard von Haerlem zu würdigen und an sein Lebenswerk zu erinnern. Sein Gutachten und Plan zur Entwässerung des Oderbruches war es, Friedrich II. zu veranlassen, mit den umfangreichen Meliorationsarbeiten im Jahr 1747 zu beginnen. Der Beginn der Trockenlegung und Kolonisation des Oderbruches war bahnbrechend und ist bis heute allgegenwärtig.«

Immerhin haben wir es hier mit einem Akt der aktiven Geschichtsaneignung im Sinne echter Erinnerungsarbeit zu tun. Auf den Erläuterungstafeln wird auch daran erinnert, dass der 9,6 Kilometer lange Deichabschnitt von Nieschen bis Kienitz in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg unter Einsatz von zum Reichsarbeitsdienst einberufenen jungen Männern neu errichtet wurde. Der »Haerlem-Blick« liegt am Europäischen Nord-Süd-Radwanderweg und wird daher auch von vielen Touristen besucht.

Peter Fritz Mengel hat in seiner geschichtsbewussten Art sehr viel für die Erinnerung an das Oderbruch und die Pflege seiner besonderen Traditionen getan. Von dauerhaftem Wert ist vor allem eine von ihm initiierte Publikation, die bis heute als Standardwerk zur Natur, Geschichte, Volkskunde und Wasserwirtschaft im Oderbruch gilt. Im Jahre 1924 beschlossen die Deichämter des Ober- und Niederoderbruchs, ein zweibändiges großes Werk über das gesamte Oderbruch herauszubringen. Nach sechsjährigen Vorarbeiten lag im Frühjahr 1930 endlich der erste Band vor, der in Ausstattung und Inhalt alle Erwartungen übertraf. In 1.700 Exemplaren war ein repräsentativer Halblederband von 352 Seiten, ausgestattet mit 153 zum Teil ganzseitigen Abbildungen, zwei Farbtafeln und einer großen, farbigen Übersichtskarte erschienen, auf den seine Urheber stolz sein konnten.5 Im Vorwort zum ersten Band nennt Mengel die Beweggründe, die ihn ein solches Publikationsprojekt ins Auge fassen ließen. Zum einen beklagt er das Defizit einer umfassenden Schilderung von Trockenlegung und Besiedlung des Oderbruchs als eine der besten Leistungen preußischer Verwaltung. Zum anderen bemängelt er, dass frühere Schriften nur ein ungenaues Bild der Natur, Geschichte und Gegenwart des Oderbruchs zeichnen, weil sie das umfangreiche Archivmaterial im Preußischen Geheimen Staatsarchiv im Archiv der Deichverbände nur unzureichend berücksichtigt hätten. Die Autoren der einzelnen Sachbeiträge konnten Quellen heranziehen, die durch Kriegseinwirkung teilweise vernichtet wurden, was einzelne der Abhandlungen besonders wertvoll und erhellend auch für heutige Forschungen macht. Die Herausgabe des zweiten Bandes hat sich dann bis 1934 hingezogen, weil die schwierige Darstellung der land- und wasserwirtschaftlichen Verhältnisse einen mehrmaligen Wechsel der Bearbeiter erforderlich machte.

Etwa neunzig Jahre sind seitdem vergangen, in denen viel Wasser die Oder herabgeflossen ist und die dem Oderbruch so manche einschneidende Veränderung brachten. Über die Jahrzehnte sind die beiden Bände sehr selten und für viele Interessenten nur schwer erreichbar geworden. Deshalb hat sich 2003, im Jahr des 250-jährigen Jubiläums der Fertigstellung des Neuen Oderkanals von Güstebiese nach Hohensaaten, die Verwaltung des Amtes Barnim-Oderbruch entschlossen, beide Bände des Mengelschen Oderbruchwerkes im Viademica Verlag Berlin als Nachdruck neu herauszugeben.6

Von besonderem Wert für die Vermittlung der landschaftstypischen Besonderheiten sind der Aufsatz von Gottfried Wentz im ersten Band über die Geschichte des Oderbruchs und im zweiten die Abhandlung über die Deichverwaltung von Mengel selbst. Dagegen spiegeln die Beiträge über die Geologie, die Mundart, die Tier- und Pflanzenwelt den Wissensstand vor neunzig Jahren. In großen Teilen sind sie wissenschaftlich überholt und müssten neu geschrieben werden. Da aber auch die Geschichte fortgeschritten ist und die entsprechenden Abhandlungen um die vergangenen Ereignisse und Prozesse der letzten Jahrzehnte ergänzt werden müssen, drängt sich der Wunsch nach einem dritten Band auf. Mit ihm würde der Wert der Mengelschen Oderbruch-Monografie als Beispiel erstklassiger Regionalliteratur durch Aktualisierung erhalten bleiben.

Die erste größere Erinnerungsphase lässt sich am Jahr 1855 festmachen, als einige der großen Koloniedörfer im Niederoderbruch ihr hundertjähriges Bestehen feierten. Darüber berichtet ein 1905 in Neulewin erschienenes Büchlein, in dessen erstem Teil gleich zu Beginn der Anlass beschrieben wird: »Bekanntlich hat der weise und große König Friedrich der Zweite diesen Teil des Oderbruchs urbar machen lassen, und im Jahre 1755 wurden da, wo sonst Sümpfe und Moräste, Rohrteiche und Elsbrüche gewesen, die Dörfer Neu-Lewin, Neu-Barnim und Neu-Trebbin gebaut, die von den benachbarten alten Dörfern (sonst Fischerdörfern, daher ihre Einwohner auch noch Fischer und Nachbaren heißen) ihre Namen bekommen haben.«7

In der am 26. August 1855 gehaltenen »Jubel-Predigt« stellte der Neulewiner Pfarrer Karl August Rütenik fest, dass der größte Teil des Landes wegen der jährlichen Überschwemmungen früher sumpfig und unwirtlich gewesen sei. Dann folgt etwas pathetisch: »Da stellte der König Friedrich der zweite dem Strom einen schützenden Damm entgegen, ließ Wohnungen bauen und Ausländer einladen: Kommt, denn es ist alles bereit! – Die nun kamen von nah und fern aus fremder Herren Länder, das waren die königlichen Gäste, und der Landesvater ihr Wirt, der sie in seine neue Schöpfung aufnahm.«8

In derartigen Verlautbarungen, die von vielen Einheimischen gehört wurden, liegt der Keim für die alleinige Verehrung Friedrichs II., hinter dessen Aura die Leistungen aller direkt Beteiligten und der Kolonisten selbst verblassen. Natürlich darf auch der immer wieder in vielen Varianten kolportierte vermeintliche Ausspruch des Königs nicht fehlen, dem wir ein paar Zeilen weiter begegnen und der bei Pfarrer Rütenik lautet: »Hier ist ein Fürstentum erworben, auf dem ich keine Soldaten zu halten nötig habe!«9

Im Vorwort der »Geschichte des Dorfes Neulewin« heißt es: »Aus Anlaß des 150jährigen Jubiläums des Bestehens der Oderbruch-Gemeinden Neu-Lewin, Neu-Barnim und Neu-Trebbin wurde von vielen Seiten der Wunsch geäußert, ihrem Gründer, dem Könige Friedrich dem Großen, ein Denkmal zu setzen. Im Frühjahr 1904 gelangte dieser Wunsch in Neu-Trebbin auch zur Ausführung.«10

In Neulewin dagegen begnügte man sich mit einem Gedenkstein, der eine Bronzeplakette mit dem Porträt Friedrichs II. trug, unter der geschrieben stand: »Seinem großen König und Gründer zum 150jährigen Jubelfeste. Das dankbare Neu-Lewin. 1755–1905.« Der unter der Friedenseiche platzierte Stein musste nach 1945 aus ideologischen Gründen abgeräumt werden.

Die Neutrebbiner konkurrierten damals mit Letschin um den rechten Standort eines großen Denkmals für Friedrich den Großen und waren einfach schneller. In Letschin, der wohlhabenden Altsiedlung, wollte man sich aber nicht lumpen lassen und zog ein Jahr später nach. Schon im Jahre 1901 hatte sich der Denkmalausschuss mit dem Ersuchen an die Gemeinden der Umgebung gewandt, für ein Denkmal Friedrichs des Großen in Letschin einzutreten. Die Weihe fand am 25. Juni 1905 statt. Ehrengast war Prinz Friedrich Heinrich von Preußen, nebst hochrangigen Honoratioren aus der Provinz Brandenburg und dem Landkreis Lebus. Nach der Enthüllung dankte Landrat von der Marwitz den Ehrengästen für ihre Anteilnahme und übergab das Denkmal der Gemeinde mit dem Wunsch, dass es die Nachkommen als Zeichen der »nie versiegenden unwandelbaren Treue zum angestammten Herrscherhaus« hüten sollten.11 Genau vierzig Jahre lang stand der bronzene Friedrich auf seinem angestammten Sockel, bis ihm nach 1945 das gleiche Schicksal drohte wie dem Neutrebbiner Denkmal. Mehrmals wurde versucht, die Skulptur einzuschmelzen oder auf andere Art und Weise verschwinden zu lassen. Schließlich haben beherzte Letschiner ihren Friedrich Jahrzehnte lang unter Heu und Stroh in einem Schuppen versteckt. Am Vorabend des Festumzuges zur 650-Jahrfeier Letschins im Jahre 1986 geschah etwas Unerhörtes. Friedrich wurde aus der Scheune geholt und mitten im Dorf aufgestellt. Es dauerte nur kurze Zeit, bis die Sicherheitsorgane der DDR Wind von der Sache bekamen und das Denkmal noch in der Nacht in Verwahrung nahmen. Nun konnte es aber nicht mehr so einfach beseitigt werden und überstand in einer Restaurierungswerkstatt die letzten Jahre der DDR. Während dieser Zeit restaurierte der Berliner Bildhauer Gunter Hermann die arg lädierte Plastik. Am 2. Juni 1990 erfolgte im Rahmen eines großen Festes nach nunmehr 85 Jahren die Wiedereinweihung an einem neuen Standort. Der ursprüngliche Sockel stand nicht mehr zur Verfügung, weil er seit 1945 inmitten eines sowjetischen Soldatenfriedhofes als Fundament für ein Ehrenmal dient.

Treibende Kraft bei der Wiederaufstellung des Denkmals war die Interessengemeinschaft »Friedrich II.«, in deren Gedenkblatt, das sie anlässlich der Denkmalsweihe herausgab, folgender Satz zu lesen ist: »Die Entstehung des Denkmals, die Bewahrung in schwerster Zeit und die erneute Aufstellung am 2. Juni 1990 dokumentieren sehr anschaulich das Traditionsbewusst sein und die Heimatliebe von vier Generationen Letschiner Bürger.«12 Er zeigt, wie auch die Letschiner mit der ihnen sehr wichtigen Wiederaufstellung ihres Denkmals Erinnerungsarbeit auf ihre ganz eigene Art geleistet haben, und das schon unmittelbar nach dem politischen Umbruch in der DDR.

Für die Popularisierung des Oderbruchmythos und die Prägung der Erinnerungskultur seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Werk Theodor Fontanes von besonderer Bedeutung. In seiner unnachahmlichen, literarisch brillanten Art beschrieb Fontane die gravierenden Veränderungen in dieser Landschaft seit der Trockenlegung, und zwar in den »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«.13 Sie wurden und werden bis heute viel gelesen. Viele Zeitgenossen erwarben ihre Kenntnisse vom Zustand des Bruchs vor der Trockenlegung, von der Kolonisation danach und von den Folgen für die Kultur und Lebensweise der Bewohner überhaupt erst durch Fontanes eingängige Schilderungen. In seinem Kapitel »Das Oderbruch«, das im zweiten Teil der »Wanderungen« aus vier Abschnitten besteht, beginnt er mit der Beschreibung »Wie es in alten Zeiten war«. Die Landschaft kannte er seit langem ziemlich gut, denn sein Vater Louis Henri Fontane betrieb in Letschin von 1838 bis 1850 eine Apotheke, wo sich Theodor zuweilen längere Zeit aufhielt. Als Erster fasste er das aus verschiedenen schriftlichen und mündlichen Quellen geschöpfte Wissen in allgemein verständlicher Diktion zusammen und machte es damit breiten Kreisen zugänglich.

So kam es, dass diejenigen eine ziemlich gute Vorstellung vom Aussehen der Bruchlandschaft vor deren Kultivierung verinnerlichen konnten, die den ersten Abschnitt des Oderbruch-Kapitels gelesen haben. So heißt es dort treffend: »Alle noch vorhandenen Nachrichten stimmen darin überein, daß das Oderbruch vor seiner Urbarmachung eine wüste und wilde Fläche war, die, sehr wahrscheinlich unsrem Spreewalde verwandt, von einer unzähligen Menge größerer und kleinerer Oder-Arme durchschnitten wurde. Viele dieser Arme breiteten sich aus und gestalteten sich zu Seen […]. Alle Jahre stand das Bruch zweimal unter Wasser, nämlich im Frühjahr um die Fastenzeit, nach der Schneeschmelze an Ort und Stelle, und um Johanni, wenn der Schnee in den Sudeten schmolz und Gewitterregen das Wasser verstärkten. Dann glich die ganze Niederung einem gewaltigen Landsee, aus welchem nur die höher gelegenen Teile hervorragten; ja selbst diese wurden bei hohem Wasser überschwemmt.«14

Der zweite Abschnitt des Oderbruch-Kapitels heißt »Die Verwallung« und beschreibt ausführlich den Kanalbau und die anderen Wasserbaumaßnahmen, die zur Trockenlegung des Bruchs notwendig waren. Im Text würdigt Fontane die Leistungen des von Friedrich II. mit der Planung und Ausführung beauftragten Kriegs- und Domänenrats Simon Leonhard von Haerlem und macht ihn dadurch im Erinnerungsgeschehen seiner Zeitgenossen erstmals sichtbar.

Im dritten Abschnitt, der mit »Die alten Bewohner« überschrieben ist, hält er selbige »bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts hinein, von ziemlich unvermischter slawischer Abstammung.«15 Eine Erinnerung daran, welch starke Veränderungen die Oderbruchtrockenlegung für die ansässige Bevölkerung mit sich brachten, liefert Fontane nicht. »Doch die nunmehr von diesen Menschen zu verarbeitenden Einschnitte in ihrem Leben konnten zunächst nicht anders als eine Verlusterfahrung erlebt werden. Es war ja eben nicht so, dass die bislang vor allem von der Fischerei und Viehzucht lebenden Oderbruchbewohner ein Leben am Existenzminimum gefristet hatten.«16

Die Befindlichkeiten der alten Fischer und ihr Widerstand gegen die friderizianischen Trockenlegungsmaßnahmen wurden zuletzt sehr schön und an den historischen Fakten orientiert in einem 2017 bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Roman thematisiert.17 Der Autor Norman Ohler schildert in eindrucksvollen Bildern eine Welt, die mit der Kultivierung des Oderbruchs untergegangen ist. Im Klappentext heißt es dazu: »Sommer 1747. König Friedrich II. will die Sumpfgebiete östlich von Berlin trockenlegen, um dort Flüchtlinge anzusiedeln. Wo noch Fische, Schildkröten und Wasservögel in überwältigender Artenvielfalt leben, sollen Kühe grasen und die Kartoffel wachsen. Es ist die Zeit vor der gewaltigen Johannisflut, die das Bruch wie seit Urzeiten überschwemmen wird. Unter den wendischen Fischern herrscht Unruhe; sie fürchten den Untergang ihrer Welt. Als der Ingenieur Mahistre tot am Oderstrand angetrieben wird, übernimmt das Mathematikgenie Leonhard Euler die Ermittlungen und gerät plötzlich selbst ins Visier. Nur die Begegnung mit Oda, der Tochter des Anführers der Wenden, kann sein Leben noch retten. Ein hervorragend recherchierter, atmosphärisch dichter Roman mit einer erstaunlichen Vielfalt an Figuren und Stimmungen: Vor dem Hintergrund des 18. Jahrhunderts entsteht ein Tableau um Verdrängung, Angst vor dem Fremden und Kolonialisierung, das wie ein Spiegelbild unserer Gegenwart wirkt.« Der Bezug zur Gegenwart erscheint etwas willkürlich, doch gewisse Parallelen zu den heutigen Befindlichkeiten gegenüber Fremden sind durchaus vorhanden, auch im Oderbruch.

Wegen der noch unvollkommenen Hochwasserschutzeinrichtungen kam es auch nach der Trockenlegung des Oderbruchs immer wieder zu verheerenden Überschwemmungskatastrophen. Hochwasserjahre wie 1770, 1780, 1783, 1785 und 1838 blieben lange Zeit im Gedächtnis der Oderbrücher haften. Das Letztgenannte gehört zu den schlimmsten Flutkatastrophen im Bruch überhaupt. Noch heute erinnert eine Hochwassermarke an einem der Innenpfeiler der Dorfkirche Altmädewitz an dieses Ereignis. Die Erinnerung daran war durchaus nachhaltig, bewegte sich aber im Rahmen der direkt Betroffenen und ihrer Nachkommen, denn auch nach 1838 gab es kritische Hochwassersituationen. Schon 1832 erfolgte die lange geforderte Abriegelung der Alten Oder bei Güstebiese. Diese Abriegelung führte dazu, dass das Oderwasser bei hohen Wasserständen nicht mehr ins Oberoderbruch zurückstaute. Bei Hochwasser war aber weiterhin das Niederoderbruch vom Rückstau betroffen, der die Landwirtschaft dort sehr beeinträchtigte. Es war daher dringend nötig, Möglichkeiten für einen wirksamen Hochwasserschutz auch für das Niederoderbruch zu finden. Viele Jahre arbeitete der Oberdeichinspektor Carl Friedrich Theodor Heuer (1785–1854) an einem Plan zur Melioration des Niederoderbruches, zu dem er am 22. Juni 1837 eine Denkschrift vorlegte. Die Kerngedanken des »Heuerschen Meliorationsplanes« waren die Verlegung des Rückstaupunktes der Oder siebzehn Kilometer flussabwärts bis nach Stützkow sowie die Eindeichung des gesamten Oderlaufes unterhalb Hohenwutzen. Wegen der Eindeichung der Oder wurde der Bau einer Schifffahrtsschleuse bei Hohensaaten notwendig, um den Schiffsverkehr zum Finowkanal offen zu halten. Heuer schlug auch die Anlage eines Vorflutkanals zur Ableitung des Binnenwassers aus dem Oderbruch vor, der durch die Höhen bei Hohensaaten gegraben werden musste. Er ist unter der Bezeichnung Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße bekannt geworden.

Die von Heuer vorgeschlagenen Arbeiten, mit deren Projektierung er sich im Oderbruch ein bleibendes Denkmal gesetzt hat, wurden zwischen 1849 und 1859 ausgeführt. Erst durch diese wasserbaulichen Maßnahmen erhielt das Oderbruch das Wasserregulierungssystem, mit dem bis heute Vorflut und Wasserhaltung effektiv reguliert werden können.

Eine überregionale und öffentlichkeitswirksame Wahrnehmung erfuhr das Oderbruch zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Nachdem die durch Kriegseinwirkung verursachten immensen Schäden an den Deichanlagen weitgehend beseitigt worden waren, stauten sich im März 1947 bei einsetzendem Tauwetter oberhalb Küstrins die Eismassen. Am 21. März hatten sie den Strom soweit zugestopft, dass hinter der Eisbarriere das Wasser sehr schnell anstieg. In der folgenden Nacht wurde der Deich bei Reitwein an drei Stellen überflutet, Verteidigungsversuche waren vergeblich. Binnen weniger Tage breiteten sich die Wassermassen über das gesamte Oderbruch aus und schlossen nicht rechtzeitig Evakuierte ein. Dabei und bei den folgenden Rettungsmaßnahmen kamen mindestens zwanzig Menschen ums Leben. In allen vier Besatzungszonen wurde das Oderbruch daraufhin zum Notstandsgebiet erklärt. Hilfskräfte aus allen Teilen der Mark Brandenburg wurden heranbeordert und Kähne, unter anderem aus dem Spreewald, akquiriert. Am 25. März 1947 berichteten deutschlandweit viele Tageszeitungen von der Katastrophe und sorgten dadurch für die weite Verbreitung von Nachrichten über die prekäre Lage der Oderbrücher. Dadurch dürften viele erstmals vom Oderbruch als künstliche Kulturlandschaft erfahren haben. Die Berliner Zeitung schrieb unter der Schlagzeile »Naturkatastrophe im Oderbruch« einen ausführlichen Bericht, der mit folgenden Zeilen beginnt: »Der Oderbruch ist von der größten Naturkatastrophe seit 150 Jahren betroffen worden. Durch den Dammbruch bei Küstrin ist ein Landstreifen von 60 km Länge und 15 km Breite überflutet.«18

Selbst die internationale Presse interessierte sich für das Ereignis und schickte ihre Bildreporter, unter anderem von ACME Newspictures Inc. und von United Press Photos Inc., die ihre Büros im U.S. Press-Center Berlin hatten. So nahmen auch die Leser US-amerikanischer Zeitungen Anteil am Schicksal der vom Oderhochwasser Betroffenen. Einige Tage später berichtete die Tägliche Rundschau, das wichtigste Publikationsorgan der sowjetischen Besatzungsmacht, unter der Schlagzeile »Hilfe für hochwassergeschädigte Bauernwirtschaften« über »Großzügige Maßnahmen der Sowjetischen Militärverwaltung für Lebus und Oberbarnim«.19

Eine derart intensive mediale Aufmerksamkeit wurde dem Oderbruch erst wieder fünfzig Jahre später zuteil. Zunächst gab es im Frühjahr 1997 verschiedene Veranstaltungen zur Erinnerung an den Beginn der Oderbruch-Trockenlegung vor 250 Jahren. Im Mai stellten der Landkreis Märkisch-Oderland und der Gewässer- und Deichverband Oderbruch zum Gedenken an den Deichbruch bei Reitwein vor fünfzig Jahren an der Deichbruchstelle einen Gedenkstein auf. Wenige Wochen später setzten im oberen Einzugsbereich der Oder ergiebige Regenfälle ein. Zahlreiche Deiche auf polnischer Seite konnten den reißenden Fluten nicht standhalten, die Tausende obdachlos machten. Am 17. Juli 1997 erreichte die erste Flutwelle den Grenzabschnitt zum Land Brandenburg und es musste Hochwasseralarm ausgelöst werden. Täglich meldeten die Printmedien, der Rundfunk und vor allem das Fernsehen die neuesten Wasserstände, denn es bestand die reale Gefahr, dass das Oderbruch wie zuletzt 1947 bei einem Deichbruch überschwemmt werden könnte. Das konnte mit enormem technischem Aufwand und nicht zuletzt mit Hilfe von 30.000 Soldaten der Bundeswehr geradeso verhindert werden. An die Dramatik der Tage Ende Juli/Anfang August 1997, als bei Hohenwutzen der Deich nach hinten auf achtzig Meter Länge abgerutscht war und zu brechen drohte, werden sich viele noch erinnern. Einer, der sich diese einmalige Gelegenheit zur Selbstinszenierung nicht entgehen ließ, war der damalige brandenburgische Umweltminister Matthias Platzeck. Durch seine zahlreichen Fernsehauftritte als verantwortlicher Koordinator und Krisenmanager der ›Jahrhundertflut‹ wurde er bundesweit bekannt. Das enorme Medienecho hatte einen großen Einfluss auf seine weitere politische Karriere, die 2005 in der Wahl zum Bundesvorsitzenden der SPD gipfelte. In Anlehnung an den Protagonisten der Novelle »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm legten ihm Journalisten den fiktiven Titel »Deichgraf« bei, eine Amtsbezeichnung, die es im Oderbruch niemals gab. In jenen Tagen besuchten auch viele führende Bundespolitiker das Oderbruch, unter ihnen Bundeskanzler Helmut Kohl, der das Oderbruchhochwasser zu einer nationalen Angelegenheit erklärte. Seine Anwesenheit und die Visiten des Bundesverteidigungsministers Volker Rühe, des SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine, der EU-Kommissarin Monika Wulf-Matthies und dann am 4. August 1997 noch der Bundesumweltministerin Angela Merkel sorgten für ein breites Medienecho. Die Landschaft Oderbruch wurde im gesamten Bundesgebiet und auch im Ausland als künstliche Kulturlandschaft wahrgenommen, die es als Lebensraum vieler Menschen vor den Oderfluten zu beschützen gilt. Eine solche überregionale Aufmerksamkeit wird ihr wohl so schnell nicht wieder zuteilwerden. Als die Gefahr abgewendet war und es ans Aufräumen ging, zeigte sich überall in Deutschland eine enorme Spendenbereitschaft, die mehr als 100 Millionen DM erbrachte. Vorher schon boten Freiwillige aus dem gesamten Bundesgebiet ihre Hilfe an und verstärkten die Einsatzkräfte an den Brennpunkten des Geschehens.

Zur Erinnerung an den Böschungsbruch bei Hohenwutzen, der fast zu einer Katastrophe geführt hätte, wären hier nicht alle verfügbaren technischen Hilfsmittel eingesetzt worden, stellten einige der direkt Beteiligten an der Bruchstelle einen kleinen Gedenkstein auf (Abb. 4). An anderen Stellen haben sich Bundeswehreinheiten mit Erinnerungstafeln an ihren Einsatz verewigt. In einigen Oderbruch-Dörfern, wie zum Beispiel in Neutrebbin, haben sich die Bürger Gedenkorte geschaffen, die an die Fragilität ihrer Heimat und an den immerwährenden Schutz vor dem Oderhochwasser erinnern.

Ein Jahr nach der Jahrhundertflut haben sich auf dem Marktplatz in Wriezen 25.000 Menschen für den Einsatz der Bundeswehr bei der Rettung des Oderbruchs bedankt. Diese Veranstaltung war mit einem Großen Zapfenstreich und der Vereidigung von 308 Rekruten verbunden und bildete den Auftakt für die seitdem in Wriezen veranstalteten regelmäßigen Deichtage. Sie tragen zur Verstetigung des aktiven Erinnerns an die Oderflut von 1997 bei und machen bewusst, dass sich solch ein Naturereignis jederzeit wiederholen kann.

1998 wurde ein Wettbewerb zur Schaffung eines Denkmals zur Erinnerung an das Oderhochwasser gestartet. Aus 68 Entwürfen unterschiedlichster Qualität wählte eine Jury das »Flutzeichen« des Cottbuser Künstlers Matthias Körner aus. Es besteht aus zwei bronzenen Blöcken, die gegeneinander gelehnt und am oberen Ende ineinander verzahnt sind. Sie symbolisieren die sich im Gleichgewicht haltenden Kräfte des Menschen und der Natur. Das Denkmal steht in Neuranft auf einer kleinen Anhöhe zwischen dem Ort und der Oder (Abb. 5). Wenn man sich dem Hügel nähert, wird seine gedrungene Silhouette gegen den Himmel sichtbar und nimmt den Landschaftscharakter des Oderbruchs auf.

Unter dem Titel »Das Oderbruch – Menschen machen Landschaft« hat sich das Oderbruch mit Unterstützung zahlreicher Akteure im September 2019 auf das Europäische Kulturerbe-Siegel beworben. Ende 2020 entschied die Kultusministerkonferenz, dass die Bewerbung einer europäischen Jury vorgelegt wird. Die Europäische Kommission vergibt das Siegel alle zwei Jahre an nur eine Stätte pro Mitgliedsstaat. Bei einem positiven Votum wäre das Oderbruch die erste Kulturlandschaft in Europa, die dieses Siegel bekommen würde.20 Für das kollektive Erinnern an die Leistungen bei der Trockenlegung und Neubesiedlung des Oderbruchs im 18. Jahrhundert und für das Bewusstmachen der Einzigartigkeit dieser brandenburgischen Landschaft wäre die Verleihung des Europäischen Kulturerbe-Siegels eine einmalige Chance.

Anmerkungen

1 Märkische Oderzeitung vom 6. Juni 1994, S. 9.

2 Friedrich Wilhelm Nöldechen, Oekonomische und staatswirthschaftliche Briefe über das Niederoderbruch und den Abbau oder die Vertheilung der königlichen Aemter und Vorwerke im hohen Oderbruche, Berlin 1800, S. 58.

3 Vgl. Frank Göse, Das Oderbruch zwischen Mythos und Realität, in: Friedrich Beck/Reinhard Schmook (Hgg.), Mythos Oderbruch. Das Oderbruch einst und jetzt, Groß Neuendorf 2005, S. 45 – 63, hier S. 45ff.

4 Ebd., S. 48.

5 Peter Fritz Mengel (Hg.), Das Oderbruch, 2 Bde., Eberswalde 1930/34.

6 Reprint-Ausgabe in zwei Bänden, Berlin 2003.

7 Wilhelm Heese/E. Rambusch, Geschichte des Dorfes Neu-Lewin. Zur Einhundertfünfzigjahrfeier des Orts am 9. Juli 1905 auf Wunsch der Gemeinde verfasst, Neu-Lewin 1905, S. 7.

8 Ebd., S. 84.

9 Ebd., S. 85.

10 Ebd., S. 3.

11 Vgl. Reinhard Schmook, Denkmäler Friedrichs des Großen im Oderbruch, in: Freienwalder Kreiskalender 35 (1991), S. 86 –93, hier S. 90.

12 25. Juni 1905 – Denkmalsweihe in Letschin – 2. Juni 1990, hgg. v. d. Interessengemeinschaft »Friedrich II.«, Letschin 1990.

13 Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. 2: Das Oderland. Barnim-Lebus, Berlin 1863; im Folgenden zitiert nach der Ausgabe Berlin 1976.

14 Ebd., S. 25 f.

15 Ebd., S. 36.

16 Göse, Das Oderbruch (wie Anm. 3), S. 62.

17 Norman Ohler, Die Gleichung des Lebens. Roman, Köln 2017.

18 Berliner Zeitung 3. Jg. Nr. 70 vom 25. März 1947, S. 1.

19 Tägliche Rundschau, 3. Jg. Nr. 98 vom 27. April 1947, S. 1.

20 Näheres dazu bei: Das Oderbruch. Menschen machen Landschaft. Bewerbung auf das Europäische Kulturerbe-Siegel, hgg. v. Oderbruch Museum Altranft, Altranft 2020; https://oderbruchmuseum.de/wp-content/uploads/2020/08/Bewerbung-Kulturerbesiegel.pdf [zuletzt: 02.04.2021].

Abbildungsnachweis

Abb. 1, 4, 5 Autor.

Abb. 2 Wilhelm Ratthey (Hg.), Harms Heimatatlas für Berlin und die Kurmark, 10. Aufl., Leipzig 1937, S. 17.

Abb. 3 Oderlandmuseum Bad Freienwalde.

 

 

Der Beitrag erschien in:

Asche, Matthias / Czech, Vinzenz / Göse, Frank / Neitmann, Klaus (Hrsg.): Brandenburgische Erinnerungsorte - Erinnerungsorte in Brandenburg. Band 1 (= Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V., Band 24). Berlin 2021, S. 181-195.


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